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21.09.18 / Verarbeitung des Kindheitstraumas nach über 70 Jahren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-18 vom 21. September 2018

Verarbeitung des Kindheitstraumas nach über 70 Jahren
Dagmar Jestrzemski

Diese Geschichte drängte danach, aufgeschrieben zu werden, denn sie fürchtete sich, vergessen zu werden.“ So umschreibt Renate Knappe ihr Bedürfnis, von der Tragödie zu berichten, die inzwischen mehr als 70 Jahre zurückliegt, deren Auswirkungen sie aber heute noch bedrücken. 

Knappe hatte einen sehr schweren Start ins Leben. Kurz vor Kriegsende 1945 war sie, ein dreijähriges Mädchen aus Ostpreußen, allein in Pommern zurückgeblieben. Ihre Familie war auf der Flucht auseinandergerissen worden. Durch einen Bombenangriff verlor sie auch noch ihre ältere Schwester, während der Verbleib ihrer jüngeren Schwester, damals ein Baby von fünf Monaten, ungeklärt blieb. Einige Jahre später war sie wieder mit Mutter, Bruder und der vermeintlichen jüngeren Schwester vereint. Aber war das vierjährige Mädchen, das ihre Mutter 1951 zu sich holte, wirklich ihre Schwester Lilly? Diese Frage beschäftigt Knappe nach wie vor sehr. Dem Bedürfnis, ihre Geschichte so vollständig und klar wie möglich darzustellen und als Buch zu veröffentlichen, ist sie nachgekommen. Dem Buch gab sie den Titel „Nächtliche Gedankenflut. Ein Suchkind erzählt“. 

In der Pressemitteilung des Verlags ist von einem Roman die Rede, aber das ist sicherlich nur ansatzweise zutreffend. Die Schilderungen der Fluchterlebnisse beruhen teilweise nur auf einzelnen Erinnerungsfetzen der Autorin. Dass sie überhaupt Erinnerungen bewahrt hat, ist außergewöhnlich angesichts der Tatsache, dass sie noch ein Kleinkind war, als sie am 17. Januar 1945 in Deutsch-Eylau bei Eiseskälte mit ihrer Mutter und den Geschwistern in einen Güterzug voller Flüchtlinge stieg. Nena, wie sich Knappe in ihrem Buch nennt, hatte drei Geschwister: Wolfram (zehn Jahre), Britta (neun Jahre) und das Baby Lilly. Ihr Vater, der als Sportlehrer bei der Wehrmacht beschäftigt war, durfte die Seinen nicht begleiten. Sie haben ihn nie wiedergesehen. 

50 Tage war der Flüchtlingszug in den Wirren des Krieges mit den verängstigten, frierenden und hungernden Menschen Richtung Westen schon unterwegs, bevor er in der Nähe von Kolberg erneut für längere Zeit anhielt. Da sich die Nachricht verbreitete, dass in Kolberg Bäcker noch Brot backen und an Flüchtlinge verteilen würden, entschloss sich die Mutter, ihre Töchter für kurze Zeit allein zu lassen, um gemeinsam mit Wolfram in der Stadt Brot oder irgendetwas Essbares zu beschaffen. Auf dem Rückweg aber wurden die beiden von russischen Soldaten mit vorgehaltenem Gewehr aufgehalten. Die Soldaten befahlen ihnen, zum Hafen zu gehen, da alle Züge geräumt worden seien und das Gebiet zur Kampfzone erklärt worden war. Ihrer Mutter und Wolfram blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Sie gehörten zu den ungefähr 70000 Menschen, die im März 1945 binnen 14 Tagen per Schiff aus Kolberg evakuiert wurden. 

Unterdessen hatten Nena und Britta mit dem Baby auf Befehl der Soldaten mit den anderen Flüchtlingen den Zug verlassen. Kurz nachdem die Kinder in einem Bauernhaus untergekommen waren, spielte sich ein Schre­ckensszenario ab, an das sich Knappe nur schemenhaft erinnert. „Es gab einen Riesenknall. … Dieses Haus, das uns seit wenigen Minuten Geborgenheit gab, fiel mit einem gewaltigen Lärm in sich zusammen. …Wir haben das Haus verlassen. Wir, das sind zwei Soldaten, Britta und ich. Während Britta uns vorangeht, werde ich von einem der Soldaten getragen.“ Was aber geschah mit dem Baby, das im Kinderwagen lag? Diese ungeklärte Frage sollte ihre Mutter später jahrelang umtreiben. 

Nena und Britta kamen auf Befehl eines russischen Soldaten in die Obhut zweier Flüchtlingsfrauen, Mutter und Tochter. Trotz der Pflege durch die beiden „Ersatzmütter“ starb Britta einige Tage später an einer Infektion infolge ihrer schweren Brandverletzungen. Für Nena bedeutete der Tod der Schwester einen unvorstellbaren Verlust. Sie war nun ganz allein auf der Welt. 

Bis zum Sommer 1947 lebte sie mit ihrer Pflegefamilie in Pommern und anschließend auf Sylt. Einige Begebenheiten aus dieser Zeit hat sich die Autorin später von ihrer Ersatzmutter Tante Jette erzählen lassen. Darüber hinaus hatte sie keine Gewährsleute für ihr Buch, denn von ihrer Familie ist niemand mehr am Leben. 

Tatsächlich niemand? – Nachdem ihre Mutter sie, die nunmehr sechsjährige Nena, über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes gefunden und zusammen mit Wolfram aus Sylt abgeholt hatte, wohnte die Familie in einer mecklenburgischen Stadt. Langsam ging es aufwärts. Die Mutter sorgte durch Arbeit für den Unterhalt der Familie, Nena wurde eingeschult, und sie bebauten ein Stückchen Land. Eines Tages im Sommer 1949 glaubte ihre Mutter, in dem Foto eines kleinen, ungefähr vierjährigen Mädchens in der Suchzeitung ihr verlorenes Baby Lilly wiederzuerkennen. Auch die Hinweise zu dem Kind wie Ort und Zeit seiner Auffindung stimmten mit den bekannten Ereignissen überein. 

Es begann ein jahrelanges Tauziehen mit der Pflegemutter der kleinen Anne-Marie, die das Kind aufgezogen hatte und nicht hergeben wollte. Erst nach dem Tod der Frau durfte Nenas Mutter das Kind abholen, das sie für Lilly hielt. Lilly hieß das Mädchen denn auch seither gemäß dem Willen der Mutter. Diese war nun zufrieden, waren doch ihrer Meinung nach nun alle überlebenden Kinder wieder unter ihren Fittichen. 

Heute bewertet Knappe einige wenig sympathische Charaktereigenschaften von Lilly, die ihr damals gleich aufgefallen waren, noch wesentlich kritischer. Das hat einen gravierenden Grund. Gut, dass ihre Mutter, die sich für jedes ihrer Kinder nach Kräften eingesetzt habe, nicht mehr miterleben musste, wie Lilly sich von ihrer Familie lossagte, schreibt Knappe. Denn einige Zeit nach dem Tod der Mutter vor über 20 Jahren eröffnete Lillys Ehemann ihr, seiner Schwägerin, dass Lilly nunmehr wieder Anne-Marie heiße und nicht mehr im August, sondern schon im März Geburtstag habe. Alles sei bereits amtlich geregelt. Im Übrigen würde Anne-Marie durch diese Veränderung einige Monate früher Rente beziehen. 

Man kann sich unschwer vorstellen, welche Gefühle diese Mitteilung bei Knappe auslöste. Der Kontakt zur vermeintlichen Schwester brach ab. Möglicherweise wird sie nie erfahren, ob Anne-Marie womöglich im Nachlass der Mutter Dokumente gefunden hat, die ihre wahre Identität belegen, und auch nicht, ob ihre Mutter darüber Bescheid wusste, jedoch Stillschweigen bewahrt hat. Sie ist sich aber sicher, „dass die wahre Lilly, wenn es sie denn noch gäbe, ihre Mutter niemals verleugnet hätte, um Geld daraus zu erzielen.“ Dieser Gedanke hat immerhin etwas Tröstliches.

Renate Knappe: „Nächtliche Gedankenflut. Ein Suchkind erzählt“, Tredition Verlag, Hamburg 2018, broschiert, 171 Seiten, 8,99 Euro