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28.09.18 / Gorbatschows Komplettierung der Macht / Vor 30 Jahren wurde der sowjetische KP-Chef auch oberster Repräsentant des Staates

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-18 vom 28. September 2018

Gorbatschows Komplettierung der Macht
Vor 30 Jahren wurde der sowjetische KP-Chef auch oberster Repräsentant des Staates
Klaus J. Groth

Für die einen war er ein Glücksfall der Geschichte, für die anderen ein Verräter: der sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorba­tschow. Er gestaltete die Welt neu. Vor 30 Jahren, am 1. Oktober 1988, wurde Gorba­tschow zum Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets und damit obersten Repräsentanten der UdSSR gewählt.

Einen Tag nach dem Tod Konstantin Tschernjenkos wurde Gorba­tschow als neuer Generalsekretär des Zentralkommitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) vorgeschlagen. Als der Name des Reformers verkündet wurde, brandete ein Beifallssturm auf. Für sowjetische Verhältnisse war der neue Führer im Kreml ein junger Mann, gerade einmal 54 Jahre alt. Er zeigte bereits bei seiner Antrittsrede, dass er gewillt war, den alten Apparat in eine neue Zeit zu führen, sprach von „Demokratisierung“, „Transparenz“, von neuen Beziehungen zum Westen. Und er handelte umgehend demonstrativ. Im Kampf gegen Schlendrian und Suff ließ er breitflächig Weinstöcke und Obstbäume vernichten. 

Entscheidender aber war seine Veränderung im Führungsstil. Gorba­tschow verlangte offene Diskussion an Stelle des bis dahin erprobten Abnickens vorliegender Beschlüsse. Nach jahrzehntelangem Verschweigen und Vertuschen wagte sich Gorba­tschow in die Tabuzonen der sowjetischen Geschichte, er benannte Verbrechen Stalins, bekannte sich zur Existenz der Zusatzprotokolle im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und zur sowjetischen Verantwortung zum Massaker von Katyn. So überraschend, wie diese Wendungen für den Westen gekommen waren, sind sie mit zeitlichem Abstand als vorbereitende vertrauensbildende Maßnahmen für einen Kurswechsel zu sehen. Gorba­tschow versuchte, ideologische Denkbarrieren zu überwinden, um mit dem Westen in einen Dialog zu kommen. Das gelang.

Mehrfach trafen sich Gorba­tschow und US-Präsident Ronald Reagan, um über die Abrüstung der beiden Supermächte zu verhandeln. Im Dezember 1987 gelang der Durchbruch, ein Vertrag über die Vernichtung aller Flugkörper mittlerer Reichweite wurde im Weißen Haus unterzeichnet. Das wurde mit einem opulenten Empfang gefeiert, Reagan und Gorba­tschow sagten „Michail“ und „Ronnie“ zueinander. 

Ein Jahr später hob Gorba­tschow die Breschnew-Doktrin auf und gab damit die Länder des Warschauer Pakts aus der sowjetischen Herrschaft frei. Das war das faktische Ende des Pakts. Bei einem Treffen mit US-Präsident George H. W. Busch auf einem Kreuzfahrtschiff in Malta erklärte Gor­ba­tschow: „Der Kalte Krieg ist beendet.“

Die Zustimmung in der Sowjetunion aber schmolz weiter dahin. Der Wandel ging zu schnell, die Opfer wurden als zu groß empfunden. Täglich wurde über den Verfall der Staatsautorität geklagt, leere Regale, hilflose Behörden, Konflikte zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsteilen. Gorba­tschow spürte sehr deutlich, wie ihm der Boden unter den Füssen entglitt. Seine Berater spürten, dass er am Ende war. Im Juni 1991 war Boris Jelzin zum Präsidenten der russischen Teilrepublik gewählt worden. Damit begann der Anfang vom Ende. Im August 1991 putschten Stalinisten mit Unterstützung etlicher Militärs, sie stellten Gorba­tschow unter Hausarrest. Jelzin verschanzte sich in Moskau, unterstützt von der Bevölkerung. Die Implosion des abgewirtschafteten Systems, die Gorba­tschow erkannt hatte, aber nicht verhindern konnte, ließ sich nicht mehr aufhalten. Jelzin ließ die KPdSU in Russland verbieten, die Ukraine und Weißrussland erklärten die Auflösung der Sowjetunion.

Gorba­tschow, der bis zu deren Ende um den Erhalt gekämpft hatte, trat zurück, zog eine bittere Bilanz: „Das Schicksal hat es so gewollt, dass ich in dem Moment an die Spitze des Staates kam, als schon klar war, dass etwas mit dem Staat nicht stimmte … Die Gesellschaft erstickte im Würgegriff des administrativen Kommandosystems. Zum Frondienst an der Ideologie verurteilt, musste sie auch die schreckliche Last des Wettrüstens tragen …“ 

Der letzte ausländische Politiker, mit dem Gorba­tschow als Präsident sprach, war Hans-Diet­rich Genscher. Der deutsche Außenminister dankte für den Beitrag zur Einheit Deutschlands und sagte: „Die Herzen und die Dankbarkeit der Deutschen werden Sie immer begleiten.“





Vom Präsidiumsvorsitzenden zum Staatspräsidenten

Entsprechend dem linken Gleichheitspostulat fielen die Titel der politischen Führer im sozialistischen Lager eher bescheiden aus. Wenn die Regierungsparteien im Westen an der Spitze einen Vorsitzenden hatten, dann hatten die im Osten nur Erste oder Generalsekretäre des Zentralkomitees.

Ähnlich wie bei den Regierungsparteien war es auch bei den Staaten. Während im Westen Präsidenten oder Monarchen an der Staatsspitze standen, waren die Spitzenrepräsentanten der sozialistischen Staaten und Volksrepubliken nicht selten nicht einmal Staatsoberhäupter, sondern nur Vorsitzende eines kollektiven Staatsoberhauptes, wie etwa der Vorsitzende des Staatsrats der DDR oder der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR.

Entsprechend dem internationalistischen Marxismus ist die Staatsangehörigkeit eines Menschen nachrangig gegenüber der Klassenzugehörigkeit. Folglich lag die Macht im sozialistischen Lager auch nicht bei den Staatschefs, sondern bei den Chefs der kommunistischen Parteien als der politischen Interessenvertretung der Arbeiterklasse. 

Von daher bekleideten in den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion weniger bekannte Politiker das Amt des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets. Das änderte sich erst, als es in den 70er Jahren üblich wurde, dass der Generalsekretär des Zentralkomitees der KP auf lang oder kurz auch Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets wurde.

Nach dem Tode des Partei- und Staatschefs Konstantin Tschernjenko im Jahre 1985 kam es erst einmal zu einem Kompromiss. Während mit dem Amt des Parteichefs der erst 54 Jahre alte Reformer Gorbatschow betraut wurde, wurde zum Nachfolger Tschernjenkos an der Staatsspitz mit Andreij Gromyko erst einmal ein strukturkonservativer 75-jähriger der alten Garde. Erst ein Jahr vor Gromykos Tod wurde Gorba­tschow auch Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets.

Die formale Bedeutung dieses Staatsamtes lag darin, dass der Oberste Sowjet ab 1938 das höchste Legislativorgan des Staates war und zwischen dessen nur zwei Tagungen pro Jahr dessen Präsidium einen Großteil von dessen Aufgaben wahrnahm. Eine wesentliche Änderung brachte, dass im Rahmen von Gorbatschows Demokratisierungsprozess ein 1989 aus für sowjetische  Verhältnisse relativ freien Wahlen hervorgegangener Volksdeputiertenkongress entsprechend einer Verfassungsänderung von 1988 an die Stelle des Obersten Sowjets als höchstes gesetzgebendes Organ trat. Es entstand ein Missverhältnis zwischen der geschwundenen Bedeutung des Obersten Sowjets und der Stellung von dessen erstem Mann als erstem Mann im Staate.

Folgerichtig wurde 1990 nach westlichem Vorbild das Amt eines Staatspräsidenten geschaffen, in das Gorbatschow noch im selben Jahr wechselte. Sein altes Amt, das durch das neue zusätzlich an Bedeutung verloren hatte, überließ er Anatoli Lukjanow. Das Amt des Staatspräsidenten behielt Gorbatschow bis zum Ende der Sowjetunion.Manuel Ruoff