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28.09.18 / »Kleine Völker werden verschwinden« / Die Wunden der sowjetischen Gewaltherrschaft schmerzen die Balten bis heute – und die Furcht ist sogar wieder gewachsen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-18 vom 28. September 2018

»Kleine Völker werden verschwinden«
Die Wunden der sowjetischen Gewaltherrschaft schmerzen die Balten bis heute – und die Furcht ist sogar wieder gewachsen
Michael Foedrowitz

Moskaus roter Terror hat die drei baltischen Staaten entsetzlich zerfurcht. Der Schock der Sowjetherrschaft sitzt immer noch tief, tiefer, als es sich die meisten Deutschen vorstellen können.

Ein schönes Eckhaus am Freiheitsboulevard, Ecke Stabuiela in Riga. Jugendstil, wuchtig und repräsentativ. Es gibt Menschen in der lettischen Hauptstadt, die bis heute die Straßenseite wechseln, wenn sie sich diesem Eckhaus nähern. Es war der Sitz der sowjetischen Geheimpolizei NKWD und dessen Nachfolgeorganisationen bis 1991. 70000 bis 100000 Letten waren durch diese Dienststelle gegangen, wurden verhört und gefoltert, im Keller erschossen, nach Sibirien deportiert.

Auch in Reval, der estnischen Hauptstadt, war ein Eck­haus Ort des Grauens: In der Pikk, Ecke Pagari-Straße waren die Folterkeller des NKWD untergebracht. Den Sowjets stand auch eine alte Zarenfestung im Hafengebiet als Gefängnis zur Verfügung, ebenfalls ein Exekutionsort.

Im dritten baltischen Staat Litauen wurde in der Hauptstadt Wilna in der Auku-Straße 2A ein ehemaliges zaristisches Justizgebäude vom NKWD besetzt. 1941 folgte die deutsche Sicherheitspolizei und der SD, und ab 1944 herrschte hier wieder der sowjetische Dienst bis 1991. Heute befindet sich dort das Museum für die Opfer des Genocida, dessen Name jüdischerseits kritisiert wird.

Es hatte keinen Tag gedauert, als nach diesem bedeutsamen 23. August 1939 in Moskau der Molotow-Ribbentrop-Vertrag plus dem geheimen Zusatzprotokoll dem US-Botschafter in Moskau und US-Präsident Roosevelt vorlag. Und es hatte auch nicht lange gedauert, bis die Briten von diesem Schandabkommen erfahren hatten. Doch die betroffenen Staaten wurden nicht gewarnt, nicht Polen, nicht die Balten, nicht Finnland. 

An die neue Situation, so der sowjetische Außenminister Molotow am 30. Juni 1940 zum litauischen Außenminister, müssten sich die Völker gewöhnen, denn: „Sie müssen die Realität sehen und verstehen, dass kleine Nationen in Zukunft verschwinden werden. Ihr Litauen und die anderen baltischen Nationen, Finnland eingeschlossen, werden sich der ruhmreichen Familie der Sowjetunion anschließen. Deshalb sollten Sie jetzt anfangen, ihr Volk an das Sowjetsystem zu gewöhnen, das in Zukunft überall, in ganz Europa, herrschen wird, an manchen Orten früher, wie im Baltikum, an anderen später.“

Die friedliebende Sowjetunion hatte 1939 bereits drei Kriege gegen Japan, Polen und Finnland geführt. Die Baltischen Staaten wehrten sich nicht beim Einmarsch, es kam zu keinen Kämpfen. In diesem Raum war Russland seit dem Sieg über die Schweden 1709 in Poltawa die vorherrschende Macht. Man kannte die Russen und ihre Mentalität. Aber durch das Zarentum waren die Völker selbst biologisch nicht in Gefahr geraten. 

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Balten selbstständig. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt war diese kurze Episode der Freiheit beendet und das Baltikum Stalin preisgegeben. Nach dem Einmarsch der Roten Armee Mitte Juni 1940 etablierte sich dort ein Mordsystem mit einer ausgeklügelten Menschenfeindlichkeit, wie es an Infamheit und Grausamkeit der europäische Kontinent seit dem Dreißigjährigen Krieg bis dahin nicht mehr gesehen hatte.

Nach der Zerstörung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen begann die Menschenjagd. Aus dem Baltikum wurden 1940 über 50000 Menschen deportiert, darunter auch 2045 Juden, für die es aber bisher keine Mahnstätte gibt. In einer Nacht wurden 11000 Esten und 21000 Litauer sowie 17000 Letten verschleppt. Die meisten waren im Winter 1940/41 bereits tot. Diese kleinen Staaten standen vor ihrer  – wie es erscheinen musste – physisch-biologischen Vernichtung. Angesichts der geringen Bevölkerungszahlen, 5,46 Millionen zusammen, war das durchaus möglich.

Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die UdSSR angriff, stieß sie überall auf Leichenfelder. Der NKWD hatte Hunderttausende in den Gefängnissen ermordet, in den Wäldern erschossen und grausam verstümmelt. Rachegefühle kamen auf, viele Balten schlossen sich den Deutschen im Kampf gegen den Bolschewismus an. Dass mit der deutschen Kapitulation 1945 der letzte Schuss in Europa verhallt sei, war ein Trugschluss, denn der „Kalte Krieg“ wurde hinterm Eisernen Vorhang heiß ausgeschossen. Dieser europäische Großkonflikt hatte von 1945 bis 1956 über eine Million Menschenleben gekostet. Erst dann konnte Moskau seine Hegemonie ganz durchsetzen. 

Mit der Rückeroberung des Baltikums durch die Rote Armee kam auch der rote Horror zurück. Doch nun waren viele Männer bewaffnet und würden sich nicht wie Schlachtvieh umbringen lassen, sie würden kämpfen: 100000 in Litauen, 40000 in Lettland und 35000 in Estland. Sie gingen in die Wälder und erhielten die Bezeichnung „Waldbrüder“. Die westlichen Nachrichtendienste unterstützten sie, entsandten Nachschub. Die Kämpfe gingen bis 1956.

Dann fanden Deportationen statt, angeblich gerichtet gegen Kollaborateure des NS-Systems, vorrangig aber gegen die Mitglieder des Widerstands. Drei Prozent der baltischen Bevölkerung, 190000 Menschen, wurden deportiert. Die Hälfte starb in den Lagern. Die andere kam zerbrochen fünf bis zehn Jahre später mittellos zurück. Das 1940 beschlagnahmte Vermögen wurde nicht zurückgegeben. Von den vor dem Kriege in Russland lebenden 200000 Letten wurden 70000 verhaftet und 14000 erschossen.

Von den Menschenverlusten hat sich das Baltikum bis heute nicht erholt. Für Lettland bedeutete das beispielsweise 29 Prozent Bevölkerungsverlust, 580000 Menschen der ursprünglich fast zwei Millionen Letten waren durch Flucht, Krieg, Holocaust, Deportationen und Vertreibung dem Land verlorengegangen.

Die sowjetischen Militärs hatten das Recht, sich nach der Wehrzeit zu entscheiden, wo sie leben wollten. Die im Baltikum stationierten Soldaten haben sich meist für die dortigen Standorte entschieden, wo die Lebensqualität am höchsten war und ist. 34 Prozent der heutigen lettischen Bevölkerung sind russischstämmig. Der NKWD hatte seinerseits genügend Leute zurück­gelassen, eine „Stay Behind Organisation“, die jederzeit aktiviert werden könnte. Letztens sollen vermehrt Anwerbungsversuche des russischen Nachrichtendienstes bei den Balten registriert worden sein. Die Furcht ist seit den Geschehnissen in der Ostukraine groß, nicht nur bei den Balten, auch bei den Skandinaviern. Sie werden kämpfen, das ist keine Frage. 

In Litauen sollen bis 1990 an die 6000 geheime Mitarbeiter des KGB für Moskau Land und Gesellschaft ausgespäht haben. 1995 gab es einen befristeten Anonymisierungsschutz für diejenigen, die sich als Agenten zu erkennen gaben, bereits im Jahr 2000 war ein Amnestiegesetz verkündet worden. Insgesamt meldeten sich 1589 Personen. 250000 KGB-Akten wurden übernommen, davon waren aber nur ein Prozent Personalakten, die meisten menschlichen Quellen sind nicht bekannt geworden. Man schätzt, dass von 1940 bis zur Selbstständigkeit 1991 etwa 118000 Personen für die Dienste Moskaus gearbeitet haben.

Präsident Putin lamentierte 2005, dass die drei Staatsführer des Baltikums nicht auf seine Einladung hin am 8. Mai zu den Festlichkeiten des Jahrestages der deutschen Kapitulation nach Mos­kau gekommen waren. Er kannte den Grund besser als die meisten anderen. Sie hatten einfach keine Lust, im Nachhinein als glückliche Sklaven ihre eigene Gefangenschaft zu feiern.

Es ist schwierig, mit den ehemaligen Unterdrückern zusammenzuleben. Einige Verbrecher wie Alfons Noviks, NKWD-Chef in Lettland 1940, standen vor Gericht und wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Moskau selbst steht dem Baltikum eher unversöhnlich ge­genüber. Ein verlorenes Kleinod, das nicht wiederzuerlangen ist.

Seit 2016 stehen 4000 NATO-Soldaten im Baltikum, und das ist gut so. Nach dieser Vergangenheit haben sie jeden Schutz und die europäische Solidarität verdient.