25.04.2024

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12.10.18 / Unheilbare Gewissensbisse

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-18 vom 12. Oktober 2018

Unheilbare Gewissensbisse
Konrad Löw

Als das Buch „Heimat. Ein deutsches Familienalbum“ Ende August dieses Jahres erschien, hieß es in der Presse, es seien schon Ausgaben in elf Sprachen verabredet. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ brachte gleich eine reich illustrierte sehr positive Besprechung, die eine halbe Seite füllt. Eine Buchsensation also, die an das Echo auf Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ erinnert?

Die Autorin Nora Krug, geboren 1977 in Karlsruhe, studierte Bühnenbild, Dokumentarfilm und Illustration in Berlin und New York 

– mit großem Erfolg, wie jede Seite ihres Buches beweist und die Tatsache, dass ihre Bildgeschichten regelmäßig in großen Tageszeitungen abgedruckt werden. Sie ist mit einem jüdischen Kollegen verheiratet. Doch worum geht es in „Heimat“? Der Untertitel lässt es vermuten: „Heimat“ erzählt anhand von Texten, Zeichnungen und Fotografien die Geschichten einer Familie im Zweiten Weltkrieg, von elf Angehörigen ihrer Mutter und von sieben ihres Vaters.

Es ist schier unglaublich, was die Autorin alles über diese schlichten Menschen in Erfahrung bringen konnte, auch wenn Sensationelles fehlt. Welche Triebkräfte haben die Mammutrecherche ausgelöst? Sie antwortet: „Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht versteht, woher man kommt?“ Doch ist sie insofern jetzt klüger?

Die ersten Aufnahmen zeigen die Gesichter von neun KZ-Aufseherinnen, hart, brutal, unbarmherzig. Krug ist einer Greisin begegnet, die vor Jahrzehnten einer solchen Bestie ausgeliefert war, die sich offenbar „heimlich in sie verliebt hatte“ und sie deshalb überleben ließ. Unter „1. Frühe Dämmerung“ erfahren wir: „Der Garten unseres Hauses in Karlsruhe grenzte direkt an einen amerikanischen Militärflugplatz, auf dem regelmäßig Flugzeuge starteten …, die entgegen aller Erwartungen beschlossen hatten, uns zu verschonen.“ Darunter die Jahreszahl 1980. Nora war damals drei Jahre alt. Alles gleichsam Vorvergangenheit. 

Die nächsten Seiten dienen dazu, um den Leser zu belehren, mit welchen Thesen 1945 die amerikanischen Soldaten über ihre Feinde gefüttert worden sind. Aus „Your Job in Germany“: „Die Deutschen sind nicht eure Freunde. Egal, wie leid es ihnen zu tun scheint, sie können nicht wieder in die zivilisierte Welt aufgenommen werden.“ Dann geht es um die eigene Sozialisation: „Mein Religionslehrer hat gesagt, dass die Juden Jesus getötet haben.“ Daneben sehen wir Paulinchen in Flammen aus dem Struwwelpeter. „Aus dieser Geschichte lernte ich, dass man kein Mitleid mit sich haben darf, wenn man für sein Verderben selbst verantwortlich ist.“

Es folgt eine Seite mit der Überschrift: „Auf einer Party in England.“ Zeile eins: „Jedes Mal, wenn ich als Jugendliche ins Ausland reiste, reiste meine Schuld mit mir.“ Nächste Zeile der Rat: „,Sag doch einfach, du kommst aus Holland‘, riet meine Tante Karin mir vor jeder Reise. Ich hätte ihren Ratschlag annehmen sollen.“ Eine Karikatur zeigt die arme Karin mit einem Mitbringsel in den Händen. Die um sie herum: „Heil Hitler! Ha ha.“

Es folgen Fotos „unverzeihbarer Gräueltaten …, die von meinem eigenen Volk begangen worden waren.“ Die letzte Zeile lautet: „Hier lag der Beweis für unsere kollektive Schuld.“ Und dieser „Beweis“ zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch und verhindert den gesunden Seelenfrieden. „Meine Verunsicherung wächst noch weiter, wenn … ich auf einem Markt in einem vorwiegend von Russen bewohnten Teil Brooklyns angespuckt werde, während ich mich mit einem deutschen Freund unterhalte.“

Gegen Ende ihrer Aufzeichnung schildert sie den erfolgreichen Versuch, zumindest zum Sohn jenes Mannes Kontakt aufzunehmen, der als Jude ihrem Vater im Entnazifizierungsverfahren beigestanden hatte. „,Sie müssen sich nicht schuldig fühlen‘, sagt Walter mit weicher Stimme.“ Sie dankt ihm und ergänzt, „obwohl ich weiß, dass das Unverzeihliche unentschuldbar bleiben muss.“

Doch was ist das Unentschuldbare in Krugs Leben? Wir entdecken es nur, wenn wir dem Irrweg folgen, der die Aufschrift trägt „Kollektivschuld“. 

Das NS-Opfer Alfred Grosser hat dem Kampf gegen die abscheuliche Kollektivschuld ein ganzes Buch gewidmet, und Klaus von Dohnanyi, dessen Vater kurz vor Kriegsende wegen seiner Hilfeleistungen zugunsten von Juden im KZ Sachsenhausen ermordet worden ist, erinnert: „So kam es, dass oft bis heute gegenüber den Deutschen nicht deutlich genug unterschieden wird zwischen Verantwortung und Schuld ... Und diese Verantwortung dauert auch fort für heutige – und zukünftige – Generationen.“

Was aber heißt „Schuld“? Individuelle Vorwerfbarkeit. Es gibt keine speziell deutsche Ethik, weder pro noch kontra. Wenn Krugs Erzieher es versäumt haben, ihr diese Einsicht zu vermitteln, so sind sie mitschuldig an ihrer scheinbar unheilbaren Gewissensbissen.

Liegt Mitschuld in ihrem Bekenntnis: „Meine Verunsicherung wächst noch weiter, wenn in amerikanischen Fernsehsendungen und Musicals … regelmäßig das Klischee von Deutschland als einem ‚nordeuropäischen‘ Land bedient wird, … wo humorlose Menschen einander in militärischem Ton herumkommandieren.“ Muss man sich derlei „Belehrungen“ zumuten? Krugs beachtliche Leistung kann in den Händen von Menschen Schaden stiften, die für Irrlehren im Bereich der Ethik empfänglich sind.

Nora Krug: „Heimat. Ein deutsches Familienalbum“, Penguin Verlag, München 2018, gebunden, 288 Seiten, München 2018, 28 Euro