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19.10.18 / Drei Wochen waren zu lang / Fast hätte das Königreich Preußen vor 100 Jahren ein demokratisches Wahlrecht erhalten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-18 vom 19. Oktober 2018

Drei Wochen waren zu lang
Fast hätte das Königreich Preußen vor 100 Jahren ein demokratisches Wahlrecht erhalten
Klaus J. Groth

Vor dem Hintergrund der 48er Revolution oktroyierte der preußische König Fried­rich Wilhelm IV. seinem Staat vor 170 Jahren, am 5. Dezember 1848 eine Verfassung. Die Gewaltenteilung zwischen rechtsetzender, rechtsprechender und ausführender Gewalt wurde dadurch noch nicht erreicht. Vielmehr stand der König nicht nur an der Spitze der Exekutive, sondern er hatte auch das Recht, die Judikative zu bestimmen und mit den beiden Kammern des Landtags Recht zu setzen. 

Das preußische Parlament, der Landtag, bestand nach britischem Vorbild aus zwei Kammern. Die preußische Entsprechung des Oberhauses, des House of Lords, war die Erste Kammer, das Pendant zum Unterhaus, dem House of Commons, war die Zweite Kammer. 1855 wurde als Folge einer Verfassungsänderung aus der Ersten Kammer das Herrenhaus und aus der Zweiten Kammer das Abgeordnetenhaus.

Die Abgeordneten des Abgeordnetenhauses wurden nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt. Das teilte Wähler je nach Steuerleistung in drei Abteilungen, gemeinhin „Klassen“ genannt, auf. Wer besonders viele Steuern zahlte, wählte in der ersten Klasse. Damit entstand ein unterschiedliches Stimmengewicht. So konnte die Stimme eines Gutsbesitzers so viel zählen wie zehn seiner Pächter oder 150 seiner Tagelöhner. In die erste Klasse wurden so viele Wahlberechtigte aufgenommen, bis ein Drittel des Steueraufkommens erreicht war, das staffelte sich dann weiter abwärts. 

Gewählt wurde indirekt. Männer waren ab dem 24. Lebensjahr wahlberechtigt. Die Wähler muss­ten mindestens seit sechs Monaten in einer preußischen Gemeinde wohnen, durften nicht straffällig geworden sein oder von der Armenfürsorge leben. Gewählt wurden Wahlmänner, die dann über die Abgeordneten entschieden. Diese sorgsam ausgetüftelte fiskalische Einteilung der Wähler war eine Meisterleistung preußischer Bürokratie. Sie hatte nahezu unverändert Bestand bis 1918.

Hinter diesem Wahlrecht stand der Grundgedanke, dass jene Bürger, die mit ihren Steuern viel zu den Einnahmen des Staates beitragen, auch entsprechend viel Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben sollten, das über den von der Regierung vorgelegten Haushaltsentwurf zu entscheiden hatte. Dieser Grundgedanke mag uns in der Politik heute fremd sein, in der Wirtschaft gilt er noch heute. Auf der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft oder einer Gesellschaftersitzung gilt ja auch nicht die Wahlgleichheit „one man, one vote“, sondern die Frage ist entscheidend, mit einem welch großen Anteil ein Aktionär beziehungsweise Gesellschafter am Gesellschaftskapital beteiligt ist. In der Wirtschaft ist diese Denkweise also noch heute aktuell, in der Politik galt sie jedoch schon damals vielen als veraltet. 

Eine Reform des Dreiklassenwahlrechts lehnte die Erste Kammer beziehungsweise das Herrenhaus jedoch lange Zeit ab. Wie der Name „Herrenhaus“ bereits vermuten lässt, war die Erste Kammer beziehungsweise das Herrenhaus ein Gremium der Oberschicht, die vom Dreiklassenwahlrecht profitierte. Seit einer Änderung der Verfassung im Jahre 1850 wurde nur noch ein Teil der Mitglieder der Ersten Kammer gewählt, anderen stand ein Sitz durch Geburt zu. Dazu gehörten volljährige Prinzen ebenso wie Familienoberhäupter reichständischer Häuser. Hinzu kamen Vertreter der größten Städte. 

Nach abermaliger Änderung der Verfassung 1853 wurde kein Abgeordneter mehr gewählt. Es waren nur noch drei Gruppen von Mitgliedern vorgesehen: erstens vom König bestimmte Prinzen, was Theorie blieb, weil kein König von dem Recht Gebrauch machte; zweitens erbliche Mitglieder, zu denen die Häupter der Fürstenhäuser Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen, Fürsten, Grafen und Freiherren gehörten; drittens auf Lebenszeit vom König „aus allerhöchstem Vertrauen“ ernannte Mitglieder sowie Vertreter großer Landesämter und Städte. 

1906 lehnte der damalige preußische Innenminister, Theobald von Bethmann Hollweg, ein allgemeines und gleiches Wahlrecht noch als „demokratische Gleichmacherei“ ab. Dennoch schrieb er an einen Freund: „Unser preußisches Wahlrecht ist auf die Dauer unhaltbar, … und so ist doch dessen konservative Mehrheit so banausisch gesinnt …, dass wir neue Grundlagen suchen müssen.“ 

1910 war Bethmann Hollweg bereit, Zugeständnisse in Richtung „demokratischer Gleichmacherei“ zu billigen. Die nicht geheime Wahl und die Einteilung in drei Klassen sollten zwar erhalten bleiben, aber es sollte eine direkte Wahl geben. Über 5000 Mark hinausgehende Steuerzahlungen sollten bei der Bildung der drei Klassen nicht mehr berücksichtigt werden. Zudem sollten sogenannte Kulturträger in die nächsthöhere Klasse aufsteigen. Dazu zählten Wähler mit Abitur und über längere Zeit im Staatsdienst dienende Personen. Den Sozialdemokraten war das zu wenig. Sie lehnten ab. 

Als sich das Ende des Ersten Weltkrieges abzeichnete, versuchte Bethmann Hollweg den Spagat. Im Februar 1917 beschwor der preußische Ministerpräsident und deutsche Reichskanzler den Aufbruch in „eine neue Zeit mit einem erneuten Volk“, plädierte für den Fortbestand der Monarchie, gestützt „auf die breiten Schultern des freien Mannes“. Das brachte ihm den Vorwurf aus dem rechten Flügel der Konservativen ein, ein „Gefolgsmann der Juden und Sozialdemokraten“ zu sein. 

Im Juli gab der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II. den Auftrag, ein Gesetz für demokratische Wahlen auszuarbeiten. Die Empörung der Konservativen hätte nicht größer sein können, allen voran Gustav Stresemann. Für das Lager war klar, dass Bethmann Hollweg weg müsse. Höchster Verbündeter der Gegner des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers war der Kronprinz. 

Währenddessen ließ die Oberste Heeresleitung das Gerücht verbreiten, General Erich Ludendorff halte den Krieg für verloren, falls Bethmann Hollweg bleibe. Stresemann streute das Gerücht, Paul von Hindenburg und Ludendorff träten zurück, werde der Reichskanzler nicht ausgewechselt. Wilhelm II. wurde schwankend. Als dann am 12. Juli tatsächlich gemeldet wurde, Hindenburg und Ludendorff hätten ihre Abschiedsgesuche eingereicht, war der Streit um eine Demokratie von Königs und Kaisers Gnaden in Preußen entschieden. Bethmann Hollweg trat am folgenden Tag zurück.

Ungeachtet dieses Erfolges der konservativen Gegner Bethmann Hollwegs nahm vor dem Hintergrund der sich verschlechternden militärischen Lage der Demokratisierungsdruck derartige Ausmaße an, dass wie die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches auch die Ablösung des Dreiklassenwahlrechts für das Preußische Abgeordnetenhaus unvermeidlich erschien, wollte man nicht das Ende des Burgfriedens riskieren. So billigte am 24. Oktober 1918 selbst das Preußische Herrenhaus in erster Lesung die Ersetzung des Dreiklassen- durch ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht. Allerdings war bis zur zweiten Lesung eine Frist von 21 Tagen abzuwarten. Bevor die verstrichen war, hatte mit dem Ausbruch der Novemberrevolution das Ende des König- und des Kaiserreichs begonnen. Das widerwillige Zugeständnis blieb historische Randnotiz.