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26.10.18 / Das Gericht zur Menschenrechtskonvention / Seit 20 Jahren können sich Europäer direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-18 vom 26. Oktober 2018

Das Gericht zur Menschenrechtskonvention
Seit 20 Jahren können sich Europäer direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden
Wolfgang Kaufmann

Vor 20 Jahren erfolgte eine grundsätzliche Neuformierung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Seitdem fungiert dieser als ständiges Organ zur Wahrung der Menschenrechte der 820 Millionen Bürger, die in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats leben. Dabei findet das Wirken des EGMR aber beileibe nicht nur Zustimmung.

„Um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben, wird ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, im folgenden als ,Gerichtshof‘ bezeichnet, errichtet.“ So beginnt der Artikel 19 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). 

Am 3. September 1953 trat die EMRK in Kraft. Ein halbes Dutzend Jahre später, am 20. April 1959,  konstituierte sich der EGMR in Straßburg, wo auch der Europarat sitzt. Anfänglich konnten die Bürger nicht direkt vor den EGMR gehen, sondern mussten ihre Beschwerden bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) einreichen. Dieses 1954 ebenfalls in Straßburg gegründete Organ des Europarats, das die Einhaltung und Durchsetzung der EMRK sichern sollte, konnte dann den EGMR anrufen – oder auch nicht, wenn der beklagte Staat seine Zustimmung hierzu verweigerte. 

Dieser Zustand war wenig bürgerfreundlich und deshalb ermöglichte das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, das am 1. November 1998 in Kraft trat, die direkte Individualbeschwerde beim EGMR. Damit wurde dieser in seiner heutigen Form begründet. Nunmehr gab es drei zulässige Verfahrensarten: das dringend angemahnte Individualbeschwerdeverfahren sowie das Staatenbeschwerdeverfahren und das Gutachtenverfahren. In der Praxis stand die Anrufung des Gerichts durch Bürger europäischer Staaten wegen einer Verletzung ihrer Menschenrechte, also die individuelle Menschenrechtsbeschwerde, absolut im Vordergrund. Des Weiteren gingen sämtliche Unterzeichnerstaaten der EMRK die Verpflichtung ein, Entscheidungen des EGMR, der nun permanent tagte und mit Berufsrichtern besetzt wurde, als grundsätzlich bindend anzusehen.

Durch die neuen Regelungen explodierte die Zahl der Beschwerden. Innerhalb kürzester Zeit pegelte sich diese bei 40000 pro Jahr ein. Deshalb sollte das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 13. Mai 2004 für eine Eindämmung der Verfahren durch leichtere Ablehnung offensichtlich erfolgloser Beschwerden führen. Das Inkrafttreten der Regelung wurde jedoch bis zum 1. Juni 2010 durch die Russische Föderation verzögert, aus der die meisten Kläger stammen. Auf den weiteren Plätzen rangieren andere ost- und südosteuropäische Staaten sowie die Türkei.

Aber auch die Bundesrepublik Deutschland wurde des Öfteren der Verletzung grundlegender Menschenrechte bezichtigt – und mehrere hundert Male auch zu Recht, wie die Straßburger Richter entschieden. So kam es wiederholt zu Verurteilungen wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, mangelnden Schutzes der Eigentumsrechte sowie Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit und der Privatsphäre. Am allerhäufigsten beanstandete der Gerichtshof die oftmals überlange Verfahrensdauer in der Bundesrepublik, die ein strukturelles Problem darstellt – Stichwort Überlastung der Justiz. 

Manchmal konnte sich der deutsche Staat indes auch mit seiner Rechtsauffassung durchsetzen. So zum Beispiel im Falle der gesetzlichen Pflicht zur entschädigungslosen Abtretung von Bodenreformgrundstücken an den Staat, wenn die Betroffenen nicht mehr in der Land- und Forstwirtschaft tätig waren. Hier teilte Straßburg die Auffassung der bundesdeutschen Justiz, dass zwischen Eigentumsschutz und Allgemeinwohl abzuwägen sei.

Im Laufe der Jahre stieß das Wirken des EGMR auf vielfältige und oft sehr berechtigte Kritik. So ist der Gerichtshof tatsächlich ein „zahnloser Tiger“, weil er nicht über exekutive Befugnisse verfügt, die Beklagten zur Umsetzung des Urteilsspruchs zu zwingen. Deshalb können es nationale Regierungen und Gerichte auch wagen, missliebige Beschlüsse des EGMR einfach zu ignorieren. Des Weiteren sind die Verfahren oftmals nicht kürzer als jene, die den entsprechenden Staaten, in denen sie stattfinden, wegen ihrer Dauer als Menschenrechtsverstöße vorgeworfen werden. Eine Prozessdauer von fünf Jahren und mehr ist keine Seltenheit.

Als größtes Ärgernis gelten allerdings die unverkennbaren politischen Ambitionen des EGMR. Statt sich um den Schutz der Bürger vor staatlicher Willkür zu kümmern, versuchen die Straßburger Richter immer wieder, Entscheidungen zu treffen, die eigentlich am Ende demokratischer Prozesse in den Einzelstaaten stehen müssten. Damit überschreiten sie ihre Kompetenzen bei Weitem. Offenbar will der EGMR mit aller Macht als Motor der europäischen Integration, wenn nicht gar als Missionar und Erzieher fungieren, wozu er aber in keiner Weise legitimiert ist. Dadurch trägt der an sich unverzichtbare Gerichtshof ganz wesentlich zur Demontage seines Rufes bei und fördert die Europaverdrossenheit der Bürger.

Nur ein Beispiel dazu: Mittlerweile geht der EGMR in seinen Urteilen weit über die Forderungen der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus, wenn er festlegt, dass auch jenen „Geflüchteten“ Schutz zustehe, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Oft gilt der inoffizielle EGMR-Grundsatz: „Im Zweifelsfalle für die Erweiterung der Menschenrechte über das bisherige Maß hinaus!“ Und zwar ohne Rück­sicht darauf, ob die europäischen Politiker und Völker das so gewollt haben oder nicht – sie werden einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und haben dann die Folgen zu tragen.

Andererseits fungiert der EGMR manchmal auch als letzte Bastion des gesunden Menschenverstandes, so wie im Falle des terrorverdächtigen Tunesiers Haikel S. Während die deutsche Justiz darüber stritt, ob dessen Abschiebung in sein Heimatland rechtswidrig sei oder nicht, weil ihm dort theoretisch die Todesstrafe drohe, gab der von dem Gefährder ebenfalls angerufene EGMR im Mai 2018 grünes Licht dafür, ihn auszufliegen. Zur Begründung hieß es in Straßburg, dass in Tunesien bereits seit 1991 keine Hinrichtungen mehr vollzogen und sämtliche verhängten Todesstrafen routinemäßig in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt würden. Allerdings handelte es sich hierbei wie immer um eine Entscheidung ohne grundsätzliche juristische Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus. Beim nächsten Mal könnte das Urteil also ganz anders ausfallen.