26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
26.10.18 / Ungarns Pendant zur deutschen Novemberrevolution / Vor 100 Jahren endete die Realunion der Magyaren mit Österreich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-18 vom 26. Oktober 2018

Ungarns Pendant zur deutschen Novemberrevolution
Vor 100 Jahren endete die Realunion der Magyaren mit Österreich
Dirk Klose

Als Anfang August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, richtete der österreichische Kaiser und ungarische König Franz Joseph einen flammenden Aufruf an sein Vielvölkerreich, allen Streit und Hader zu vergessen und stattdessen der Monarchie treu zur Seite zu stehen. Diese Kriegsproklamation trug den Titel „An meine Völker“ und war in elf Sprachen abgefasst, ein Hinweis auf die vielen Nationalitäten in der Habsburgermonarchie. 

Die Erwartung hat getrogen. Die Begeisterung vom Sommer 1914 war spätestens nach einem Jahr verflogen, die Stimmung in der Bevölkerung verschlechterte sich angesichts dramatischer militärischer Misserfolge und einer immer prekärer werdenden Versorgungslage immer mehr. Im Sommer 1918 war die militärische Niederlage absehbar; es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, dass die Monarchie auseinanderfällt. 

Zentren der Monarchie waren Österreich und Ungarn, seit dem sogenannten Ausgleich nach dem verlorenen Deutschen Krieg von 1866 gleichberechtigt nebeneinander stehend. Zusammengehalten wurde die sogenannte Doppelmonarchie durch die Person des Monarchen und durch ein Gemeinsames Ministerium, das für nur noch drei gemeinsame Aufgabenfelder – Auswärtiges, Verteidigung und Finanzen – verantwortlich zeichnete. Ansonsten hatte jeder Staat sein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. 

Stärkste Persönlichkeit der Monarchie in den Kriegsjahren war der ungarische Graf Istvan Tiszla. Der Ministerpräsident Ungarns von 1903 bis 1905 und von 1913 bis 1917 hatte sich anfangs loyal für die gemeinsame Sache eingesetzt, zollte dann aber den separatistischen Kräften in seinem Land mehr und mehr Tribut. Auch nach seiner Ablösung als Regierungschef bestimmte er weiter das Geschehen in Budapest. Dort wurde – parallel zu Unabhängigkeitsbestrebungen in den tschechischen und südslawischen Landesteilen – der Ruf nach Unabhängigkeit immer lauter. Nachdem im Juni 1918 eine Großoffensive gegen Italien an der Piave verlustreich gescheitert war, brach sich die Demoralisierung im militärischen wie im zivilen Bereich endgültig Bahn. Die feierliche Verkündung von Franz Josephs Nachfolger als österreichischer Kaiser und ungarischer König, Karl, die Monarchie in eine Föderation umzugestalten, kam zu spät. 

In Budapest standen ab Oktober die Zeichen auf Sturm: Am 16. Oktober erklärte das Parlament die Selbstständigkeit Ungarns; am 24. Oktober wurde ein Ungarischer Nationalrat (Magyar Nemzeti Tanács) gegründet, der über demokratische Reformen beraten sollte; am 31. Oktober wurde der Austritt Ungarns aus der Realunion mit Österreich erklärt und eine selbständige ungarische Regierung unter dem Grafen Mihaly Karolyi gebildet; am 11. November verzichtete Karl „auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften“; am 16. November 1918 wurde die Ungarische Demokratische Republik proklamiert. Hunderttausende zogen durch die Straßen. Sie schmückten sich, um Gewaltlosigkeit zu bekunden, mit weißen Astern, weshalb diese dramatischen Tage auch als „Asternrevolution“ (Öszirózsás forradalom) in die Geschichte eingegangen sind. Ein düsteres Omen war aber, dass ausgerechnet Tiszla am 31. Oktober in seinem Haus in Budapest ermordet wurde. 

Die durch Hungersnöte, Arbeitslosigkeit und verletzten Nationalstolz aufgepeitschte Bevölkerung erlebte vom März bis zum August 1919 unter dem Kommunisten Béla Kun nach Bayern die zweite mitteleuropäische und nach dem Sowjetstaat die zweite souveräne Räterepublik. Die Rache der anschließend wieder die Ereignisse bestimmenden Konservativen war grausam und milderte sich erst, als mit Admiral Miklós Horthy eine starke Persönlichkeit an die Spitze des Staates kam.

Dass ein Binnenstaat wie Ungarn einen Admiral an der Spitze hatte, mag auf den ersten Blick etwas skurril wirken, erklärt sich aber damit, dass der Ungar der letzte Oberbefehlshaber der k.u.k. Kriegsmarine war. Der Marineoffizier blieb der starke Mann Ungarns bis 1944. Er amtierte als Reichsverweser eines Königreiches ohne König. Der vormalige österreichische Kaiser und ungarische König Karl hatte versucht, wenigstens den Thron in Ungarn zu behalten beziehungsweise zurückzugewinnen und war zweimal, 1920 und 1921, an der Spitze getreuer Soldaten auf Budapest marschiert. Auf Druck der Siegermächte musste Horthy Karl jedoch zur Aufgabe zwingen. Ein Jahr nach dem zweiten missglück­ten Abenteuer ist Karl im Schweizer Exil gestorben. Sein Sohn Otto von Habsburg hat gegenüber allen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns auf jegliche Thronansprüche verzichtet.

Ungarn gelang es im Gegensatz etwa zu den Tschechen oder den Südslawen nicht, sich als Opfer einer Fremdherrschaft des deutschen Geschlechts der Habsburger darzustellen. Das Land wurde vielmehr wie Österreich als Kriegsverlierer behandelt und bekam wie die anderen Verlierer in einem Pariser Vorort einen harten Frieden diktiert. Im Frieden von Trianon vom 4. Juli 1920 verlor das Land zwei Drittel seines Vorkriegs­territoriums und drei Fünftel seiner Bevölkerung an Rumänien, die Tschechoslowakei und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das spätere Jugolslawien. Das verzweifelte „nem nem, soha“ (nein, nein, niemals) quer durch alle Bevölkerungskreise vermochte daran nichts zu ändern. Aus einer bis 1914 stolzen Mittelmacht im Herzen Europas war ein kleines, fast wehrloses Land geworden. Im Zweiten Weltkrieg holte sich Ungarn an der Seite Adolf Hitlers einige Gebiete zurück, musste aber nach 1945 akzeptieren, dass die Sowjetunion den alten Zustand wiederherstellte. Angesichts dieses Schicksals wundere sich niemand über den bis heute starken Patriotismus im Land der Magyaren.