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26.10.18 / Kollektivschuld »lehne ich ab« / Viktor Frankls große Wiener Rede von 1988: »Jede Nation ist holocaustfähig«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-18 vom 26. Oktober 2018

Kollektivschuld »lehne ich ab«
Viktor Frankls große Wiener Rede von 1988: »Jede Nation ist holocaustfähig«
Erik Lommatzsch

Der Bundesminister des Auswärtigen, Heiko Maas, erhebt sich gern moralisch. Dass von ihm gebrauchte Formulierungen wie etwa, er sei „wegen Auschwitz in die Politik gegangen“, zu höhnischen Miss­auslegungen und Kommentaren verführen könnten – mit Ausch­witz haben auch andere „Politik“ gemacht, in einer der dunkelsten Phasen der deutschen Geschichte – , ist ihm offenbar nicht einmal bewusst. Im Duktus plattester Ewigkeits-Kollektivschuldzuschreibung erklärte er bei einem Besuch des Vernichtungslagers, „unsere Verantwortung endet nie“. 

Wenn Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am Tag der Deutschen Einheit davor warnt, „sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen“, hat er natürlichen ebenfalls die NS-Zeit im Blick. Und die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel hat erst Anfang Oktober mittels Reise ihre Freundschaft zu Israel wiederentdeckt, auch wenn das mit dem Iran-Atomabkommen nicht ganz kompatibel ist. In der Gedenkstätte Yad Vashem verewigte sie sich im Gästebuch mit dem Eintrag, dass aus den „beispiellosen Verbrechen des Zivilisationsbruchs der Shoa“ eine „immerwährende Verantwortung Deutschlands“ erwachse. 

An die Verbrechen des NS-Staates zu erinnern, Gedenken und historische Vermittlung sind Anliegen, deren Berechtigung in Deutschland wohl kaum jemand in Frage stellen dürfte. Etwas anderes ist die Kollektivvereinnahmung der gegenwärtig Lebenden bis in die Unendlichkeit. Schäbig ist die Instrumentalisierung und der durchsichtige Versuch, daraus politisch-moralisches Kapital für eigene Anliegen zu schlagen, die mit den Vorgängen in der Zeit der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten nicht das Geringste zu tun haben.

Beschämend für derartige Politikeransinnen müsste allein der Hinweis auf Viktor Frankl sein. Dieser war Begründer der „Dritten Wiener Schule“ der Psychotherapie. Die von ihm vertretene Logotherapie setzt auf den „Sinn“ als Triebkraft. „Quellen des Sinns“ seien das Schaffen eines Werkes, das Erleben und selbst das Leiden, auch wenn sich dessen „Sinn“ mitunter erst sehr weit im Nachhinein erschließen mag. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde der 1902 geborene Wiener Arzt 1942 nach Theresienstadt und schließlich nach Auschwitz deportiert. Fast sämtliche Verwandte, auch seine Frau, die er erst im Jahr zuvor geheiratet hatte, wurden ermordet. 

Frankl überlebte die Zeit, er starb 1997. Eng verbunden mit seinem umfassenden medizinisch-wissenschaftlichen Werk äußerte er sich später auch immer wieder zu den mit den Erfahrungen im Konzentrationslager zusammenhängenden Fragen. Bereits 1946 war sein Bericht „… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ erschienen.

Wenn es Menschen gab und gibt, die Kollektivschuldanklage erheben dürften, dann doch in erster Linie Menschen mit dem Lebensweg eines Viktor Frankl. In seinem Fall weit gefehlt. Von intellektueller und menschlicher Größe zeugt die Rede, welche er vor 30 Jahren auf dem Wiener Rathausplatz anlässlich des 50. Jahrestages des „Anschlusses“ Österreichs gehalten hat. 

Von der Zuhörerschaft erbat er zunächst ein gemeinsames Gedenken an seine ermordeten Familienangehörigen. Allerdings sei von ihm kein Wort des Hasses zu erwarten. Die Opfer kenne er, jedoch nicht die Täter, zumindest nicht persönlich, „… und jemanden nicht persönlich sondern kollektiv schuldig zu sprechen, lehne ich strikt ab“. Nachgeborene kollektiv schuldig zu sprechen, sei sogar „ein Verbrechen und ein Wahnsinn … und dazu noch ein Rückfall in die nationalsozialistische Ideologie der Sippenhaftung“. 

Frankl postulierte, dass grundsätzlich jede Nation „holocaustfähig“ sei. Und trotz derartiger Erkenntnisse oder gerade wegen derartiger Erkenntnisse war das Resignative nie seine Sache, das Versöhnende sehr wohl. Während der sehr häufigen Vortragsreisen in die USA sei er gefragt worden, warum er nach seiner Befreiung nach Wien zurückgekehrt sei, ob ihm „die Wiener zu wenig angetan“ hätten? Frankl habe dann immer den Blick auf Menschen gelenkt, die Verfolgten unter größter eigener Gefahr das Leben retteten – warum hätte er in eine Stadt, in der es solche Menschen gäbe,  nicht zurückkehren sollen? 

Kann man sich vorstellen, dass jemand im Deutschland unserer Tage eine Rede in einem derartigen Duktus und von derartigem Format hält? Die Antwort ist leider ein klares Nein.