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02.11.18 / Bildersturm im Orgelland / Nach dem Zweiten Weltkrieg durften die Instrumente nicht mehr im romantischen Sinne »schön« sein

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-18 vom 02. November 2018

Bildersturm im Orgelland
Nach dem Zweiten Weltkrieg durften die Instrumente nicht mehr im romantischen Sinne »schön« sein
Sebastian Junius

Wie in der Architektur wurden die durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Lücken genutzt, um auch im Orgelbau einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vollziehen. Auch diesem Bereich sollte der „deutsche Geist“ ausgetrieben werden.

Als Kaiser Wilhelm am 19. Okto­ber 1912 den Neubau von St. Michaelis einweihte, hatte Hamburg nicht nur sein Wahrzeichen zurück, sondern eine musikhistorische Sensation: Die größte Orgel der Welt. 163 Regis-ter maß das Instrument, das Oskar Walcker auf der Westempore errichten ließ. Der Orgelbauer aus Ludwigsburg bildete gemeinsam mit den Firmen Ladegast und Sauer die Spitze der deutschen Orgelindustrie und belieferte mit seinen Instrumenten ganz Europa.

35 Jahre später wollte man von Orgeln wie im Hamburger Michel nichts mehr wissen. Was war geschehen?

Walckers riesiges Werk war nicht nur technisch ein Bravourstück, sondern vor allem ästhetisch. Auf dem Höhepunkt der Spätromantik bot die Orgel jenen Klang, der überall auf der Welt mit „deutscher Romantik“ assoziiert wird. Warm, rund, lyrisch, empfindsam, manchmal schwermütig. Dazu ein „Volles Werk“ (alle Register gezogen), das mit archaischer, grenzenloser Kraft überzeugte. Die „Hamburger Nachrichten“ meldeten begeis-tert, „...dass noch nie unsere Nerven von so wuchtigen Orgelklängen erschüttert, unsere Empfindungen noch nie von so weichen, lieblichen Stimmen, und zwar Stimmen aller nur denkbaren Saiten-, Blas-, Metall-, Holz- und Glockeninstrumente, umschwebt und umschmeichelt worden sind. ... Ihrer wunderbaren Klänge Zauber entzückte des Kaisers und des Volkes Herz und Ohr“.

Wagner-Transkriptionen klangen auf solchen Orgeln nicht fremd, sondern organisch. Spätes-tens ab 1880 konnten alle größeren deutschen Instrumente ein stufenloses Crescendo erzeugen, vom zartesten Pianissimo bis zum tosenden Forte. Für sinfonische Musik eine Grundvoraussetzung. Besonders die bekannten Orgelwerke Max Regers machten von den technisch-klanglichen Möglichkeiten der Jahrhundertwendeorgel Gebrauch. Das Spiel der Kontraste, der effektvolle Wechsel elegischer Passagen und grundstürzender Akkordkaskaden hat Generationen von Organisten begeistert.

Dabei gab es auch Kritik an der „Orchesterorgel“. Albert Schweitzer polemisierte gegen die Technikverliebtheit der Deutschen und empfahl das konservativere französische Modell. Und die sogenannte Orgelbewegung suchte im Rückgriff auf idealisierte barocke Formen die Orgel auf ihren „eigentlichen Kern“ zurück­zuführen. Dennoch blieb bei vielen Neubauten bis Kriegs­ende der romantische Grundsound erhalten. Häufig wurden bewährte Register einfach nur umbenannt und geringfügig verändert, um „Innovation“ zu simulieren. Dass Walcker 1936 den Bauauftrag für die Orgel auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände erhielt (ein noch viel gigantischeres Instrument mit 220 Registern) war in propagandistischer Hinsicht folgerichtig. Auch diese Orgel war – von moderaten Korrekturen im Sinne der Orgelbewegung abgesehen – voll „Wagner-kompatibel“.

Die Zäsur kam nach 1945. Wie viel von der Michaelis-Orgel die Bombennächte überstanden hat, ist heute umstritten. Aufzeichnungen Walckers deuten an, dass zumindest Teile des Pfeifenwerks eingelagert und nach dem Krieg noch vorhanden waren. Fest steht jedoch, dass ein Wiederaufbau zu keinem Zeitpunkt politisch gewollt war. Wie in der Architektur wurden die entstandenen Lücken genutzt, um einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vollziehen. Den Orgeln, die jetzt gebaut wurden, lagen vollständig andere (wenn auch teils innovative) Konzepte zu Grunde. Eines sollten sie aber in keinem Fall sein: Im romantischen Sinne „schön“. Selbst Instrumente, die den Krieg überlebt hatten, fielen jetzt einer Art „Bildersturm“ zum Opfer. Sie wurden umgebaut, umintoniert, dem Zeitgeist angepasst und in vielen Fällen unwiederbringlich zerstört. Die Orgel des Kaiserreiches mit ihrem unverhohlenen Schön- und Gefühlsklang und einer von keinen Selbstzweifeln gestörten Freude an der Kraftentfaltung hatte ausgedient. Mehr noch: Sie war verdächtig geworden.

Dass der Reformeifer vor allem in Westdeutschland zuschlug, lag weniger an ideologischen Differenzen als am Geld. Kirchgemeinden in der DDR hatten schlicht nicht die Mittel, um flächendeckend Neubauten zu errichten. So blieben die alten Orgeln stehen, viele wurden gepflegt, manche verfielen, aber die Substanz blieb erhalten. Heute ist man hier heilfroh über den vergessenen kulturellen Schatz. Besonders Mecklenburg-Vorpommern verfügt über eine Dichte an Orgeln der Romantik, die westliche Besucher in Erstaunen versetzt.

Auch im Westen hat sich der Zeitgeist inzwischen geändert. Als in den 1980er Jahren die Wiederentdeckung der romantischen Orgel begann, kehrten die „lieblichen Stimmen“ auch in Neubauten zurück. Dabei orientierten sich die Orgelbauer bezeichnenderweise zunächst nicht an der deutschen, sondern an der französischen Tradition.

Heute ist der Bann gebrochen. „Geigenprincipale“, „Salicionale“ und „Doppelflöten“, Registernamen, die jeder Kenner sofort mit Orgeln des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt, bevölkern die Spieltische neuer Instrumente. Vorläufiger Höhepunkt dieser speziellen Form kirchenmusikalischen Historismus‘ ist der Neubau im Magdeburger Dom von 2008, eine im Grunde unverblümte sinfonische Stilkopie, allerdings angereichert mit mo­dernster Steuerungstechnik.

Wer einmal erleben möchte, wie sich Orgeln der deutschen Romantik anhören, dem sei ein Besuch in Schwerin (Dom, Ladegast, 1871), Berlin (Dom, Sauer, 1905) oder Riga (Dom, Walcker, 1884) empfohlen.