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09.11.18 / Als das Boot noch voll sein konnte / Willkommenskultur und Grenzen bei Südvietnams Boatpeople

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-18 vom 09. November 2018

Als das Boot noch voll sein konnte
Willkommenskultur und Grenzen bei Südvietnams Boatpeople
Klaus J. Groth

Der 3. Dezember 1978 war der erste Advent. An diesem Sonntag sendete das Fernsehen Bilder, die viele Zuschauer tief berührten. Die ersten Boatpeople aus Südvietnam trafen in Deutschland ein. 40 Jahre ist das nun her.

Enthusiastisch skandierten Studenten im Mai 1975 den Namen ihres Idols: „Ho Ho Ho Tschi Minh …“ Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten den Vietnamkrieg verloren. Ganz Vietnam wurde Sozialistische Republik, und Saigon, die letzte Bastion der US-Amerikaner, hieß nun „Ho-Tschhi-Minh-Stadt“. Zehntausende Südvietnamesen und Gegner des kommunistischen Regimes machten sich auf die Flucht vor den Umerziehungsmaßnahmen der Sieger. 

Ende der 1970er Jahre waren es 1,5 Millionen Flüchtlinge, die auf völlig überladenen Schiffen und nicht seetüchtigen Booten versuchten, Malaysia, die Philippinen oder Thailand zu erreichen. Schätzungsweise eine Viertelmillion soll dabei umgekommen sein. Bilder von Fischerkähnen mit verzweifelten Familien auf hoher See gingen um die Welt. Mit Stacheldraht eingezäunte Aufnahmelager der Anrainerstaaten waren hoffnungslos überfüllt. Der schrottreife Frachter „Hai Hong“ dümpelte schon seit zwei Monaten mit 2500 Flüchtlingen vor Malaysias Küste und durfte nicht anlegen.

Privatleute und Medien appellierten an die Bundesregierung, die sogenannten Boatpeople in einem Akt der Humanität aufzunehmen. Doch das sozialliberal geführte Kabinett unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) zögerte. Deutschlands Linke machten Stimmung gegen die Geflohenen aus dem vormals von US-nahen Regimes regierten Südvietnam.

Ernst Albrecht, der damalige christdemokratische Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, beendete das Tauziehen um Menschenleben. Zu Beginn der Adventszeit ließ er 168 Boatpeople nach Hannover-Langenhagen einfliegen. Von dort aus wurden sie in das Grenzdurchgangslager Friedland gefahren. Nun erklärten sich alle von der CDU geführten Bundesländer bereit, den Ostasiaten Zuflucht zu bieten.

Das Wort „Willkommenskultur“, das heute für viele einen problematischen Beiklang hat, war noch nicht erfunden. Aber die ausgemergelten Ankömmlinge, gegen die ungewohnte Winterkälte in Rotes-Kreuz-Decken gehüllt, wurden von der Bevölkerung herzlich willkommen geheißen. Eine Welle der Hilfsbereitschaft schlug ihnen entgegen. Bereits um Weih­nachten konnten alle das Lager verlassen und in besseren Unterkünften oder von Privatleuten angebotenen Wohnungen unterkommen. 

An der Spitze der Helfer stand Rupert Neudeck, Journalist und Redakteur beim Deutschlandfunk. Der gebürtige Danziger hatte als Kind die Schrecken der Flucht erlebt. Er gründete das Hilfskomitee „Ein Schiff für Vietnam“. Prominente wie Heinrich Böll, Martin Walser, Dieter Hildebrandt und Alfred Biolek unterstützten das Projekt. Die CDU-Abgeordneten Elmar Pieroth und Matthias Wissmann gründeten ein „Vietnam-Büro“. Zeitungsverlage und das Fernsehen sammelten Millionen an Spendengeldern ein. 

Schon kurz nach der Gründung seiner Organisation konnte Neudeck ein Schiff chartern: die „Cap Anamur“. Der Frachter für Container und Schwergut der Reederei Bauer und Hauschildt in Hamburg wurde zum Hospitalschiff umgebaut und nahm im August 1979 seinen Dienst vor der südvietnamesischen Küste auf. Bilder der „Cap Anamur“ erschienen in allen Medien. Aufgrund ihrer Popularität wurde das Hilfskomitee in „Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte“ umbenannt. Die Boat­people wurden an Bord medizinisch behandelt und mit Essen und Kleidung versorgt. Maschinen der Bundeswehr flogen sie nach Deutschland. Aber das Schicksal vieler anderer blieb ungewiss.

Die Gegner der Aufnahme eines größeren Kontingents führten die hohen Kosten für Unterbringung und Integration ins Feld. Sie rechneten vor, dass allein 5000 Flüchtlinge die Steuerzahler im ersten Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland 100 Millionen D-Mark kosten würden. Hinzu kam der ungeklärte Flüchtlingsstatus der Menschen aus Südostasien. Was sollte mit ihnen geschehen? 

Am 9. November 1979 schrieb Anke Fuchs, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, dass sie den bereits anerkannten Asylberechtigten gleichgestellt werden sollen, da „sich durch das Asylverfahren die Eingliederung der Kontingentflüchtlinge in das Erwerbsleben unnötig verzögert“. 1980 verabschiedete der Bundestag das „Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge“. Das hieß: Sie erhielten als „Kontingent-Flüchtlinge“ sofort eine Aufenthaltsgenehmigung und durften arbeiten. Familienzusammenführung sollte den Vorrang haben.

Zunächst sollten nur 10000 Boat­people nach Deutschland kommen dürfen. Dann wurde das Kontingent, auch auf Druck der USA – die etwa 800000 Südvietnamesen aufnahmen und von ihren Verbündeten Solidarität verlangten – auf 40000 erhöht. Allein über 10000 kamen von der „Cap Anamur“. Nach anfänglichen Lobeshymnen geriet Rupert Neudeck in die Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, seine Aktion sei ein Magnet, der auch Wirtschaftsflüchtlinge anziehe. Von der „Cap Anamur“ Gerettete durften nicht mehr nach Deutschland gebracht werden. Im März 1982 kehrte das Schiff mit 285 Flüchtlingen von seinem letzten Einsatz nach Hamburg zurück. Wieder war es das Land Niedersachsen, das sie aufnahm. 

Das Schlusswort sprach Helmut Schmidt. Im Kabinettsprotokoll vom 11. November 1981 heißt es: „Der Bundeskanzler weist in der Beratung nachdrücklich darauf hin, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. Schon jetzt haben einige Stadtteile in Großstädten einen Ausländeranteil von 20 bis 30 Prozent. Das sei jedoch auch im Interesse einer Integration nicht mehr zu verkraften.“

Die Vietnamesen erwarben sich den Ruf, besonders lernwillig und fleißig zu sein. Sie integrierten sich schneller als andere Asylanten. Einer Studie zufolge konnten die meisten in den 90er Jahren ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren und besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft. Rupert Neudeck und Ernst Albrecht, beide inzwischen verstorben, werden von den Boatpeople und ihren Nachkommen als Retter verehrt.