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09.11.18 / Als Moskau die »Brüder« in Ketten legte / Vor 50 Jahren sprach Leonid Breschnew den sozialistischen Staaten das Recht auf Souveränität ab

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-18 vom 09. November 2018

Als Moskau die »Brüder« in Ketten legte
Vor 50 Jahren sprach Leonid Breschnew den sozialistischen Staaten das Recht auf Souveränität ab
Wolfgang Kaufmann

Wie wenig die Führung der Europäischen Union aus der Geschichte gelernt hat, zeigt ihr Umgang mit Mitgliedsstaaten auf dem ehemaligen Territorium des Ost­blocks. Immer, wenn Brüssel sich wieder einmal in die inneren Angelegenheiten von Ländern wie Polen, Ungarn oder Tschechien einmischt, werden die Menschen dort an die vor 50 Jahren verkündete Breschnew-Doktrin erinnert, die wie ein Damoklesschwert über dem Ostblock schwebte.

„Das Prinzip der Selbstbestimmung muss … den Prinzipien des Sozialismus untergeordnet werden“, forderte der Volkskommissar für Nationalitätenfragen und Angehörige des Revolutionären Kriegsrates der Roten Armee, Josef Stalin, schon 1918. Und so hielt es dann auch die 1922 gegründete Sowjetunion – selbst, als auf Stalin der Reformer Nikita Chruschtschow folgte, der proklamierte, es könne „unterschiedliche Wege zum Sozialismus“ geben. Ein typisches Beispiel für den rigiden Dirigismus von Seiten des „Mutterlandes aller Werktätigen“ ist die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch die Rote Armee im November 1956.

Chruschtschow wurde im Ok­tober 1964 von seinem politischen Ziehsohn Leonid Iljitsch Breschnew gestürzt, der in der Zeit danach sukzessive zum Alleinherrscher im Kreml aufstieg. Damit begann die „Goldene Ära der Stagnation“, wie allerorten gewitzelt wurde, weil das Sowjetsystem unter dem Neo-Stalinisten Breschnew komplett verkrustete. Außenpolitisch zeigte sich der zunehmend lethargische und medikamentensüchtige Staats- und Parteichef allerdings nach wie vor ambitioniert. Insbesondere versuchte er, wie seine Vorgänger auch, die absolute Kontrolle über die sozialistische Welt zu erlangen, was jedoch kompliziert war. Schließlich verweigerten China, Albanien, Rumänien und Jugoslawien den geforderten Kniefall vor dem Kreml und sendeten damit für diesen besorgniserregende Signale aus. Breschnew und dessen altersschwache Unterstützerriege im Politbüro wollten es um keinen Preis riskieren, dass noch weitere sozialistische Staaten sich ihrem Einfluss entzogen.

Aber genau das drohte 1968, als in der Tschechoslowakei der als „Prager Frühling“ bekannt gewordene Demokratisierungs- und Reformprozess einsetzte, der zudem auch noch auf weitere Ost­blockstaaten überzuschwappen drohte. Deshalb telefonierte Breschnew am 13. August 1968 mit Alexander Dubcek, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC), um ihn wieder auf die ideologische Linie Moskaus zu zwingen. Im Verlaufe des Gespräches äußerte er unter anderem: „Wenn du einen Streit zwischen uns verhindern möchtest, lass uns doch … den rechten Kräften eine gebührende kommunistische Abfuhr erteilen.“ Daraufhin entgegnete Dubcek, Breschnew solle ihm Handlungsfreiheit gewähren oder die Initiative übernehmen: „Dann ergreifen Sie jene Maßnahmen, die Sie für richtig halten.“ Damit spielte er auf die unverhohlene Ankündigung einer Intervention im sogenannten Warschauer Brief vom 15. Juli 1968 an. In diesem Schreiben hatten die Führer der Kommunistischen Parteien Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens und der UdSSR an das Zentralkomitee der KPC appelliert: „Seht Ihr denn nicht, dass Euch die Konterrevolution eine Position nach der anderen entreißt, dass die Partei die Kontrolle über den Verlauf der Ereignisse verliert? … Nach unserer Überzeugung ist eine Situation entstanden, in welcher die Bedrohung der Grundlagen des Sozialismus in der Tschechoslowakei die gemeinsamen Lebensinteressen der übrigen sozialistischen Länder gefährdet. Die Völker unserer Länder würden uns ein gleichgültiges und sorgloses Verhalten zu einer solchen Gefahr niemals verzeihen.“

Die Umsetzung der „Maßnahmen“ gegen die „rechtsabweichlerische“ Führung in Prag begann am 21. August 1968 mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR. Einen reichlichen Monat später reichte das sowjetische Parteiorgan „Prawda“ die ideologische Begründung hierfür nach. Dabei griff es die Kernaussage des „Warschauer Briefes“ auf: „Ohne Zweifel haben die Völker der sozialistischen Länder … die Freiheit, … den Entwicklungsweg ihres Landes selbst zu bestimmen. Dennoch darf keine ihrer Entscheidungen … die fundamentalen Interessen der anderen sozialistischen Staaten oder der weltweiten Arbeiterbewegung schädigen.“ 

Ganz ähnlich argumentierte kurz darauf der sowjetische Partei- und Staatschef selbst, als er am 12. November 1968 in seiner Rede vor den Delegierten und Gästen des 5. Parteitags der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei nochmals auf den Einmarsch zu sprechen kam, womit die offizielle Geburtsstunde der Breschnew-Doktrin schlug: „Und wenn die … dem Sozialismus feindlichen Kräfte die Entwicklung irgendeines sozialistischen Landes auf die Restauration der kapitalistischen Ordnung zu wenden versuchen, wenn eine Gefahr für den Sozialismus in diesem Land, eine Gefahr für die Sicherheit der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft entsteht, ist das nicht nur ein Problem des betreffenden Landes.“ Dann sei „militärische Hilfe für ein Bruderland zur Unterbindung einer für die sozialistische Ordnung entstandenen Gefahr“ ebenso legitim wie notwendig.

Allerdings agierte die Sowjetunion später nur ein einziges Mal gemäß der Breschnew-Doktrin. Das war beim Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 zwecks Rettung der moskauhörigen Regierung in Kabul. Danach hielt sich die UdSSR zurück – sogar während der Krise in Polen Anfang der 1980er Jahre, die am 13. Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts durch den „Militärrat der Nationalen Rettung“ endete. Die endgültige Todesstunde der Breschnew-Doktrin schlug indes erst Anfang Juli 1989 auf einem Gipfeltreffen der Partei- und Staatschefs des Warschauer Paktes in Bukarest. Damals forderten Nicolae Ceausescu aus Rumänien und Todor Schiwkow aus Bulgarien Strafmaßnahmen gegen die Reformstaaten Polen und Ungarn, womit sie sich aber nicht durchsetzen konnten. Immerhin hatte der neue Kreml-Chef Michail Gorbatschow bereits im März 1985 während der Beisetzungsfeierlichkeiten nach dem Tode seines Amtsvorgängers Konstantin Tschernenko erklärt, dass ab sofort jedes sozialistische Land eigenständig über seinen Kurs entscheiden könne. Für diese neue Politik Moskaus prägte Gennadi Gerassimow, der Pressesprecher des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse, im Oktober 1989 die scherzhafte Bezeichnung „Sinatra-Doktrin“ – eine Anspielung auf das Frank-Sinatra-Lied „My way“, also „Auf meine Art“.