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09.11.18 / Achtsamkeit statt Tiernummern / Circus Roncalli mit neuem Programm auf Tour – »Storyteller« als Klammer der Zirkusgeschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-18 vom 09. November 2018

Achtsamkeit statt Tiernummern
Circus Roncalli mit neuem Programm auf Tour – »Storyteller« als Klammer der Zirkusgeschichte
Alexander Glück

Wenn früher ein Zirkus in der Stadt war, dann war es eigentlich immer ähnlich: Trapeznummer, Zauberer, Clowns, Pferde und in der Pause der Aufbau des großen Käfigs für die Dressurnummer. Barum. Krone. Busch. Heute hingegen ist es ein großer Unterschied, in welches Zelt man geht.

Roncalli ist in 41 Jahren zur Marke gereift. Es gibt alle zwei Jahre ein neues Themenprogramm, daneben Varietés und Spezialveranstaltungen. Aufgebaut und organisiert von Bernhard Paul, der schon früh von seiner Idee infiziert war und der bewiesen hat, dass man sehr gut ohne die artifizielle Poesie André Hellers auskommt. Paul lebt seine eigene artifizielle Poesie.

Die besteht aus mehreren Zutaten. Erstens: Achtsamkeit – nicht so sehr im Weglassen von Plastik (auch das), sondern im Zulassen von Zwischentönen, Entschleunigung und Unsensationellem. Beispiele aus den letzten Programmen: Jonglage mit Heliumballons. Balance mit meterlangen Holzstäben, bei der man die Sekunden tropfen hört. Schattenspiele mit den Händen, während der Artist freihändig durch die Manege radelt. Die Faszination der Langsamkeit.

Zweitens: Ironie. Hier ist die Trapeznummer nicht bierernst, sondern der Rahmen für eine Clownerie, in der sich die Zirkuswelt selber auf die Schippe nimmt. „Der Clown lacht, weil er traurig ist“, heißt es. Vielleicht ist damit auch der Zustand der Artis-tik in unserer Zeit abgezirkelt, in der das kindliche Staunen nicht mehr so selbstverständlich ist, obwohl alle immer höher fliegen. Roncalli holt es zurück, das Lachen des Clowns gilt letztlich uns allen.

Drittens: Kitsch im positiven Sinne, besonders sichtbar in der „Corporate Identity“. Der Zirkus hat das immer gebraucht, früher den Kitsch der Sensationen, heute den des Liebenswürdigen. Von der Internetseite bis zu den Drehgriffen an den historischen Waggons zieht er sich durch. Der Medienmix im Zirkuszelt schwingt ihn noch höher auf, wenn die Beamer Ikonen projizieren: Eine virtuelle Pferdenummer. Der Gründer, lesend im Heißluftballon. Der Weißclown. Jedem auf den Bänken sagen diese Bilder etwas.

Das Interessante am Circus Roncalli ist aber nicht, in dieser Formelsprache erstarrt zu sein, sondern – im Gegenteil – erheblich zur Reform des Zirkus’ beigetragen zu haben. Roncalli ist der Grund, warum viele heute überhaupt in einen Zirkus gehen. Gründer Bernhard Paul gehört zu denen, die dieses Konzept erst gegenwartstauglich ge­macht haben.

Vor allem wohl durch den Verzicht auf Tiernummern. Was früher die Leute anzog und deshalb an Attraktivität immer weiter gesteigert werden musste, ist mittlerweile Vergangenheit. Das Vorführen von Kunststücken durch Tiere wirkt problematisch, es wird vom Publikum hinterfragt, und was früher von anderen an Vermenschlichung von Bären, Affen und Elefanten vorgeführt wurde, wird heute zu Recht vom Schweigen der Geschichte umhüllt. Nicht einmal mehr Ponys laufen durch die Manege, es gab nur noch zwei oder drei blecherne Hündchen zu erbli-cken. Dafür ist die Riege attraktiver Artistinnen deutlich besser repräsentiert. Eine gute Entscheidung.

Wenn es also keine Tiere gibt und nicht immer die bombas-tischsten Sensationen, was ist es dann, woraus Paul seine dargebotenen Geschichten komponiert? Vor allem das Staunenswerte. Nehmen wir den Magier Mike Chao. Der stellt sich bescheiden an den Rand des Manegenrunds und während klassische Klaviermusik über den Besuchern niedertröpfelt, geschieht etwas in seinen Händen: Karten und Bällchen vermehren und verwandeln sich, hier tauchen sie auf, dort verschwinden sie, er bläst sie als Glitter in die Luft und blickt dabei mit leicht wehmütigem Ausdruck drein, als wüsste er selber nicht, was da vor sich geht. Diese Beiläufigkeit verzaubert das Publikum.

Ein krasser Gegenpol ist Robert Wicke, der buchstäblich mit nichts als sich selbst das Zelt vor Rhythmus kochen lässt. Wehe dem, der von ihm in die Manege geholt wird. Der gerät dort für die Ewigkeit von zehn Minuten zum Helden, der den brandenden Applaus auf seiner Seite weiß. Eine absolute Publikumsbombe ist – neben dem schon lange bekannten Roncalli-Stammclown Anatoli – das Ausnahmetalent Marco Antonio Vega alias Christirrin aus Mexico Stadt, das nicht nur zahllose Talente in sich vereint, sondern in seiner Wandlungsfähigkeit und absoluten Selbstironie eigentlich der Super-GAU für jedes Zirkusprogramm sein müsste. Wenn – ja, wenn dieser Kerl, der sich gibt wie ein Knallfrosch auf Crack, nicht zugleich ein absoluter Profi wäre.

Trotzdem sind es nicht allein Talent und Können der Artisten, welche die Besucher verzaubern. Es sind die „Stories“, die hier erzählt werden. Wer vor ein paar Jahren den Entschleunigungskünstler Baldrian mit seiner launischen Luftschlange Gisela erlebt hat oder wer jetzt Paolo Carillon oder das Duo Vic & Fabrini sieht, der wird ganz eingenommen von einer Geschichte. Das kann die melancholische Poesie am Boden sein, es geht aber auch ein paar Meter höher, wenn etwa Paul-Tochter Vivien allein (2016) oder als Hälfte der „Queens of Baroque“ staubumglittert akrobatische Bilder von grenzenloser Schönheit in die Zirkuskuppel stellt.

Brauchen wir dabei Adrenalin? Hochseilartistik ohne Netz, Lebensgefahr für hoffnungsvolle Künstler, die Tag für Tag unter Hochdruck arbeiten? Brauchen wir nicht. Wir sehen, dass der Artist Haitao Kong, der bis 16 Meter hoch auf Stühlen balanciert, dabei angekabelt ist. Das trägt zur Entspannung bei und damit zum Genuß. Spektakulär ist das alles trotzdem, wie beispielsweise die Cedeños Brothers in einer unglaublichen Sprungnummer (ohne Kabel) zeigen.

Roncalli, das ist eine Art fairer Deal. Fair, weil nicht wie bei den anderen die Hälfte der Karten zum Superpreis verschenkt werden muss, damit überhaupt noch jemand kommt. Dieser Zirkus kostet Geld, wenn man reingeht, aber davor kostete er seinen Betreiber auch schon viel. Und man bekommt viel zurück: „Komm her und wir zeigen Dir, was alles sehenswert ist“, sagt der Zirkus. Alles, was das Publikum tun muss, ist, sich einen Abend lang darauf einzulassen. Wer von dem, was er zu sehen bekommt, nicht hingerissen ist, dem ist nicht zu helfen.


Nach Wien stehen Graz (bis 11. November), Linz (bis 9. Dezember) und Berlin auf dem Tourneeprogramm.