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30.11.18 / Warum nur ein Ernährer nicht mehr reicht / Einst konnte ein Verdiener die Familie allein finanzieren – dass das vorbei ist, hat auch mit veränderten Gewohnheiten zu tun

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-18 vom 30. November 2018

Warum nur ein Ernährer nicht mehr reicht
Einst konnte ein Verdiener die Familie allein finanzieren – dass das vorbei ist, hat auch mit veränderten Gewohnheiten zu tun
Dagmar Jestrzemski

Vater geht arbeiten, Mutter ist Hausfrau. Diese klassische Aufteilung wird immer seltener. Das liegt nicht nur am veränderten Rollenverständnis der Frauen, sondern auch daran, dass das Geld eines Alleinverdieners nicht mehr reichen würde.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) unterstützt die weitverbreitete Auffassung, dass der seit 2005 (mit kurzer Unterbrechung 2009) andauernde Aufschwung bei der deutschen Mittelschicht nicht angekommen ist. Nach der hier zugrundeliegenden Berechnung gehören 77 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht und damit fünf Prozent weniger als noch in den 90er Jahren. 

Ohne Umverteilung zugunsten der ärmeren Einkommensgruppen durch Transferleistungen und Subventionen wäre die Mittelschicht am unteren Rand allerdings stark erodiert. Sie würde nur rund 46 Prozent der Bevölkerung umfassen, und die Ungleichheit wäre wesentlich höher. Familien mit einem Nettoeinkommen zwischen 2049 und 6829 Euro zählen zur Mittelschicht ebenso wie Alleinstehende mit einem Monatseinkommen zwischen 976 und 3252 Euro netto. Nicht überraschen kann das Gefälle zwischen alten und neuen Bundesländern. 

Das durchschnittliche Nettoeinkommen in der Mitte der Gesellschaft stieg von 2005 bis 2015 von knapp 1700 nur auf gut 1800 Euro an. Als Ursache für die Stagnation benennt die Studie den internationalen Konkurrenzdruck durch die globale Vernetzung. Problematisiert wird die im internationalen Vergleich hohe steuerliche Belastung der unteren und mittleren Einkommensgruppen. 

Gravierend ist für Millionen deutsche Mittelschichtler, dass ein auskömmlicher Unterhalt einer Familie mit Kindern nur mehr per Doppelverdienst erbracht werden kann. Mit diesem einschneidenden Phänomen beschäftigt sich die Studie jedoch nicht. 

Für viele Menschen, besonders für die älteren, stellt sich die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Es war doch in der alten Bundesrepublik vor 40, 50 Jahren möglich, mit einem einzigen Monatseinkommen eine Familie zu ernähren. Fast immer war es das Gehalt des Familienvaters. Und das trotz unglaublich niedriger Einkommen. Anfang der 1960er Jahre verdiente ein männlicher Arbeitnehmer in Westdeutschland laut Statistischem Bundesamt im Durchschnitt 590 Mark brutto, Ende der 60er Jahre schon 1290 Mark. Frauen hatten mit 358 beziehungsweise 796 Mark wesentlich niedrigere Arbeitseinkünfte. 

Was bei einer vergleichenden Betrachtung jedoch häufig vergessen wird: Es wurde allgemein eisern gespart, auch gab es keine Handys und damit zusammenhängende laufende Kosten für Abos und dergleichen. Damals war die Ehefrau und Mutter gewöhnlich „nur“ Hausfrau. Sie „brauchte“ nicht zu arbeiten,  wusste aber sehr gut mit dem knappen Haushaltsgeld umzugehen. 

Mit einem mittleren Beamtengehalt konnte man die Raten für den Pkw und das Eigenheim abzahlen, und der vierwöchige Familienurlaub an der Ostsee wurde mindestens so wertgeschätzt wie heute die Kurztrips zu den schönsten Stränden der Welt. Natürlich waren alle zusammen in einem einzigen Zimmer in einer kleinen Pension untergebracht, was es heute so nicht mehr gibt. Überhaupt ist ein Vergleich zwischen den Wirtschaftswunderjahren und der Gegenwart nur aussagekräftig, wenn man die damalige und die heutige Lebensweise mit in Betracht zieht.

In der ehemaligen DDR waren dagegen fast alle Frauen voll berufstätig, da der Staat sie als Arbeitskräfte benötigte und die Familien auf zwei Gehälter angewiesen waren. Die Kinder wurden in den Krippen betreut. Auf dieser Basis hatten die Familien ebenfalls ein einigermaßen auskömmliches Dasein, doch ihr Leben war im Vergleich mit den Familien im „Goldenen Westen“ anstrengender und entbehrungsreicher. 

Im Fall der Scheidung hatte dieses Modell aber den Vorteil, dass die Frauen besser versorgt waren. Nach der Vereinigung glichen sich die Verhältnisse immer mehr an. Von 1996 bis 2013 sank der Anteil der zweifach berufstätigen Eltern im Osten Deutschlands von 65 auf 58 Prozent. Im gleichen Zeit­raum stieg der Anteil der Familien mit Doppelverdienern im Westen von 46 auf 55 Prozent, wobei Vollzeit-Doppelverdiener eher zur Ausnahme geworden sind. 

Wie aber sollen Eltern mit eineinhalb durchschnittlichen Einkommen plus Kindergeld die Kosten für Miete, Energie, Kita, Essen sowie die Fahrt zum Arbeitsplatz bezahlen und angesichts der drohenden Altersarmut auch noch private Altersvorsorge betreiben? Manche schaffen es gerade so, andere müssen Hilfen vom Staat beantragen. Offiziell sind sie nicht arm. Wer in einer ländlichen Region wohnt, hat den Vorteil niedriger Mietkosten. 

Ironie der Verhältnisse: In den Städten, wo es die meisten Arbeitsplätze und einen hohen Zuzug gibt, ist bezahlbarer Wohnraum kaum noch vorhanden. Durchschnittlich verschlingen die städtischen Mieten ein Drittel der Haushaltseinkommen, in einigen Großstädten und bei ärmeren Familien sogar 40 bis 50 Prozent. Auch dieser Effekt ist auf die Globalisierung zurückzuführen.

Für einen Alleinstehenden ist der heutige Netto-Durchschnittsverdienst immerhin auskömmlich, vorausgesetzt, er oder sie wohnt nicht im angesagten Innenstadtviertel einer deutschen Metropole zur Miete, wo die Mietpreise seit Jahren einer grotesken Steigerung anheimgefallen sind. 

Blicken wir nun wieder auf das Jahr 1960. Für ein Kilo Zucker arbeitete man 1960 30 Minuten, 2009 nur noch vier Minuten. Für einen Liter Vollmilch betrug die Arbeitszeit 1960 im Durchschnitt elf Minuten, 2009 noch ganze drei. Am krassesten zeigt sich der Unterschied bei den Elektroartikeln. Während der Durchschnittsverdiener 1960 noch 156,5 Stunden arbeiten musste, um einen Kühlschrank kaufen zu können, waren es 2009 nur noch 23 Stunden und 46 Minuten. Für 200 Kilowatt Strom mit Grundgebühr wurden im Durchschnitt 1960 noch gut zehn Stunden gearbeitet, 2009 dagegen nur dreieinhalb. Nur bei der Gegenüberstellung eines Zeitungsabonnements pro Monat besteht Gleichstand: Die Arbeitszeit dafür beträgt heute wie damals eine Stunde und 41 Minuten. 

Angesichts dieses Vergleichs erscheint es auf den ersten Blick erstaunlich, dass die durchschnittliche Entlohnung für die Lebenshaltungskosten einer Familie heute in Deutschland oft nicht mehr ausreicht. Bei der Suche nach den Ursachen würde ein Team von Ökonomen zunächst einmal verschiedene volkswirtschaftliche Trends zueinander ins Verhältnis setzen – ein überaus kompliziertes Unterfangen. Hier seien nur zwei Aspekte genannt: Einen großen Einschnitt bewirkte die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) 2005 geschaffene Liberalisierung des Arbeitsmarkts und des laut Schröder „besten Niedriglohnsektors der Welt“. Vor diesem Hintergrund stagniert die Lohnentwick­lung in Deutschland seit nunmehr 20 Jahren.

So hat das kapitalistische Wirtschaftssystem mit Nach- oder Beihilfe der Politik früher wie heute den marktgerechten Menschen hervorgebracht. Ob dabei in irgendeiner Phase „Wohlstand für alle“ entstanden ist, darf bezweifelt werden. Seit Jahren aber sorgen die vor allem in Großstädten explodierenden Mieten zunehmend für ein Knirschen im Getriebe. Seit Beginn der 2009/10 eingeleiteten Niedrigzinsphase tummeln sich zahllose in- und ausländische Finanzspekulanten auf dem städtischen Immobilienmarkt. Zulasten der Allgemeinheit treiben sie die Kosten für das Wohnen in absurde Höhen. 

Dabei ist die Wirkung des Euro nicht zu vergessen. Sein Kurs ist für Deutschland zu niedrig, weil die Gemeinschaftswährung den Querschnitt zwischen stärkeren Volkswirtschaften wie der deutschen und schwächeren wie jenen der EU-Südstaaten abbildet. 

Dadurch wird die Kaufkraft der Deutschen künstlich abgesenkt, während der deutsche Immobilienmarkt für internationale Investoren lange Jahre zur Schnäppchenbude verkam. Zugleich beförderte der anhaltend hohe Zuzug in die Ballungsräume eine  Verknappung von bezahlbarem Wohnraum. Auch der intensive Wohnungsbau hat die Wohnungsnot bisher kaum gemindert. Es wäre aufschlussreich gewesen, von den Machern der KAS-Studie auch zu erfahren, wie groß der Anteil der Arbeitnehmer ist, die  – zwischen Nullzinsen, hohen Wohnkosten und stagnierenden Gehältern – noch Vermögensaufbau betreiben können. 

Besorgniserregend ist das Fazit einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2017 zur Mietpreisentwicklung: „Die Wohnbedingungen sind damit nicht nur ein Spiegel bestehender Ungleichheit, sondern tragen auch selbst durch die hohe Mietkostenbelastung zu einer wachsenden Ungleichheit bei.“