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07.12.18 / Ein zweiter Fall Pasternak / Er gab den GULag-Opfern eine Stimme und erhielt den Nobelpreis – Der Autor Alexander Solschenizyn

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-18 vom 07. Dezember 2018

Ein zweiter Fall Pasternak
Er gab den GULag-Opfern eine Stimme und erhielt den Nobelpreis – Der Autor Alexander Solschenizyn
Matthias Hilbert

Der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn hat in seinen Werken den Millionen Opfern, die in den Straflagern Stalins unschuldig ums Leben kamen, eine Stimme gegeben. Vor 100 Jahren wurde er geboren: am 11. Dezember 1918.

13. Februar 1974: Auf dem Frankfurter Flughafen landet ein sowjetisches Passagierflugzeug. Ein bärtiger Mann fortgeschrittenen Alters entsteigt der Maschine. Unten sieht er einen kleinen Pulk von Menschen. Viele klatschen. Andere fotografieren ihn. Leicht verstört geht der Mann die Gangway hinunter. Dann wird er zu einem Auto geführt und in die Nordeifel ins Dorf Langenbroich chauffiert. Zu Heinrich Böll, der hier ein Sommerhaus besitzt.

Bei dem Ankömmling handelte es sich um Alexander Solschenizyn. Tags zuvor war er verhaftet und dann am folgenden Tag von Männern des KGB in ein Flugzeug gesteckt und außer Landes geflogen worden. Ziel war die Bundesrepublik, die sich zur Aufnahme des ausgestoßenen Dissidenten bereit erklärt hatte. 

Am liebsten hätte die sowjetische Führung den unbequemen Schriftsteller erneut in ein Lager oder in die Verbannung geschickt. Nach abfälligen Äußerungen über Stalin war er dort schon einmal von 1945 bis 1953 gelandet. 

In der Zeit des politischen „Tauwetters“ erschien dann sein aufsehenerregender Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, der den Lageralltag eines einfachen Häftlings ungeschminkt schildert und den Autor über Nacht im Inland (und schon bald auch im Ausland) bekannt machte. Kein Geringerer als der damalige Ministerpräsident Chrusch­tschow hatte sich für die Veröffentlichung des Werks eingesetzt.

Doch spätestens nach Chrusch­tschows Sturz im Oktober 1964 herrschte erneut kulturpolitische Schlechtwetterlage. Die Schriftsteller hatten wieder parteikonform und im Sinne und Stil eines verlogenen „sozialistischen Realismus“ zu schreiben. Doch Solschenizyn verweigerte sich. Er wurde diffamiert und ausgegrenzt. Im September 1973 war es dann dem KGB gelungen, das Versteck ausfindig zu machen, in dem er ein Manuskriptexemplar seines hochbrisanten Werkes „Archipel Gulag“ verwahrt hatte. In ihm dokumentiert Solschenizyn, gestützt auf Berichten von Hunderten überlebender Augenzeugen, die Existenz und Funktionsweise jenes kommunistischen KZ-Systems, dessen Lager im ganzen Land verteilt waren und der „GULag“ (russ. Abkürzung für „Hauptverwaltung der Lager“) unterstanden. 

Millionen von Gefangenen – unter ihnen zahlreiche gläubige Christen und politisch Andersdenkende, selbstständige Bauern („Kulaken“) und überhaupt solche, die willkürlich als „Saboteure“ bezeichnet oder zu „Volksfeinden“ erklärt wurden – sind in diesen Lagern, in denen sie schwerste Sklavenarbeit für den Aufbau der sowjetischen Wirtschaft leisten mussten, ums Leben gekommen. Ihrem Gedenken fühlte sich Solschenizyn verpflichtet. 

Doch nun war das Werk in die Hände des KGB gelangt. Zum Glück aber hatte Solschenizyn bereits den größten Teil des Ma­nuskriptes in den Westen schmuggeln lassen und veranlasste zum Ärger des Geheimdienstes als auch der sowjetischen Führung den Druck. Doch den Autor wie einst ins Gefängnis oder in die Verbannung zu schicken, erschien nicht opportun. Denn dafür war der Schriftsteller, der 1970 womöglich auch deswegen den Literaturnobelpreis erhalten hatte, weil ihn der Westen im Kalten Krieg zum zweiten Fall Pasternak erheben wollte, zu prominent. Außerdem war gerade Entspannungspolitik mit dem Westen angesagt. Daher die Entscheidung, ihn abzuschieben.

Nach einem kurzen Aufenthalt bei Heinrich Böll hält sich Solschenizyn für einige Monate in der Schweiz auf. Danach lässt er sich in den USA nieder. Hier schreibt er weiter an seinem mehrbändigen Roman „Das Rote Rad“, in dem er nicht nur einzelne markante Ereignisse und Schlachtverläufe des Ersten Weltkrieges – soweit sie Russland betreffen – schildert, sondern auch den Hintergrund und die Entstehung der Russischen Revolution ausschweifend darstellt. Wie schon sein „Archipel Gulag“ sprengt dieses Monumentalwerk durch kryptische Anreicherung von Dokumentarmaterial das Roman-Genre und wirkt mehr wie ein geschichtliches Sachbuch.

Wie in seinem Heimatland, so blieb Solschenizyn auch in den USA der unangepasste Einzelgänger, der er immer war. Nach seiner Lagerzeit und der Überwindung eines Krebsleidens, das er 1967 im Roman „Krebsstation“ verarbeitet hatte, bekannte er sich zum russisch-orthodoxen Glauben und zu wertkonservativen Vorstellungen. Der materialistische, konsumorientierte Lebensstil ge­fiel ihm nicht. Auch warf er dem Westen Nachgiebigkeit ge­genüber dem Kommunismus vor. 

Im Mai 1994 kehrte er nach Russland zurück. Der Kommunismus hatte hier inzwischen abgedankt. Doch was jetzt an seiner Statt Einzug gehalten hatte, entsprach nicht den Vorstellungen Solschenizyns von einer politischen und moralischen Wende in seinem Land. Dabei war er weder Anti-Demokrat noch Mo­narchist, wie ihm seine Gegner unterstellten. Er war aber überzeugt, dass für ein so riesiges Land wie Russland mit seinen unterschiedlichen Nationalitäten und Religionen eine starke Zentralmacht von Nöten sei.

Von Putin, mit dem er verschiedentlich zusammengekommen war, hatte sich Solschenizyn allerdings zu viel versprochen und ihn offensichtlich auch zu naiv eingeschätzt. Immerhin aber veranlass­te dieser schon bald nach Solschenizyns Tod am 3. August 2008, den „Archipel Gulag“ in einer von Solschenizyns Witwe gekürzten Ausgabe zur Pflichtlektüre an den Schulen zu machen. Jenes Buch, welches das Weltbild so mancher Linker durcheinandergebracht hatte, da sich die unliebsame Wahrheit über den Staatsterror im sozialistischen „Musterstaat“ nicht mehr länger leugnen und als Übergangsepisode abtun ließ.