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14.12.18 / Ist der »Dolchstoß« wirklich eine »Legende«? / Vor 100 Jahren erschien der »NZZ«-Zeitungsartikel »Ein englischer General über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-18 vom 14. Dezember 2018

Ist der »Dolchstoß« wirklich eine »Legende«?
Vor 100 Jahren erschien der »NZZ«-Zeitungsartikel »Ein englischer General über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs«
Dirk Pelster

Die Geschichte der sogenannten Dolchstoßlegende, dass gegen Ende des Ersten Weltkrieges die im Felde unbesiegte deutsche Armee von der Zivilbevölkerung im Allgemeinen und den sogenannten Novemberverbrechern im Besonderen von hinten erdolcht worden sei, lässt sich mindestens 100 Jahre bis zu einem Zeitungsartikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ („NZZ“) zurückverfolgen.

Am 17. Dezember 1918 erschien in der „NZZ“ ein ungezeichneter Artikel mit der Überschrift „Ein englischer General über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs“. Dort werden zwei Aufsätze des britischen Generals im Ersten Weltkrieg sowie militärwissenschaftlichen Dozenten und Schriftstellers Sir Frederick Barton Maurice referiert und hinsichtlich ihres repräsentativen Charakters eingeordnet mit Worten wie „In anderer Form habe ich so ziemlich überall, in den verschiedensten Kreisen dieselben … Ansichten gefunden, wie sie General Maurice aussprach“ und „Was die deutsche Armee betrifft, so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefasst werden: Sie wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht.“ 

Nichtsdestoweniger handelt es sich für das Gros der Historiker der Bundesrepublik, die sich in der Tradition der Novemberrevolution und der aus ihr hervorgegangenen Weimarer Republik sieht, beim „Dolchstoß“ der „Novemberverbrecher“ in den Rücken des „im Felde unbesiegten Heeres“ um eine „Legende“, welche die führenden deutschen Militärs nach dem Krieg erfunden hätten, um ihr militärisches Versagen zu kaschieren und den sozialdemokratischen, linksliberalen und katholischen Politikern der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses und der Weimarer Koalition die Verantwortung für die Niederlage in die Schuhe zu schieben. Dabei wird unterstellt, der Krieg sei spätestens gegen Ende September 1918 hoffnungslos verloren gewesen und die Politik hätte zur Vermeidung weiteren Blutvergießens schließlich nur vollzogen, was ohnehin unausweichlich gewesen wäre: die Abtretung großer Gebiete des Deutschen Reiches, die Zahlung gewaltiger Reparationen, den Sturz der Monarchie und schließlich die Übernahme der alleinigen Kriegsschuld.

Bei näherer Betrachtung der militärischen Lage im Herbst 1918 zeichnet sich allerdings ein durchaus differenzierteres Bild ab. Mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches im Vorjahr ergab sich für Deutschland zu Beginn des letzten Kriegsjahres eine ganz erhebliche Entlastung. 

Zum einen wurde durch den mit dem neu entstandenen Sowjetstaat im März 1918 geschlossenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk die Grundlage für eine substanzielle Verbesserung der Versorgungslage für das unter der britischen Seeblockade leidende Deutsche Reich geschaffen. Zwar blieben die ersten Rohstofflieferungen zunächst hinter den Erwartungen zurück, doch angesichts der kurzen Zeitspanne der Geltung des Vertrages konnte die Entlastung bis zum Herbst noch keine volle Wirkung entfalten. 

Zum anderen verbesserten sich durch die durch die Beendigung des Zweifrontenkrieges im Osten freiwerdenden Truppen die Kräfteverhältnisse an der Westfront. Die Oberste Heeresleitung (OHL) suchte in mehreren groß angelegten Frühjahrsoffensiven nun die Entscheidung herbeizuzwingen. Trotz anfänglicher Erfolge und größerer Geländegewinne wurden die Divisionen des Kaisers bis zum Sommer schließlich weitestgehend wieder in ihre Ausgangsstellungen zurück­geworfen. 

Im August 1918 gingen die Alliierten ihrerseits in die Offensive und drückten die Frontlinie noch einmal zurück nach Osten. Nachdem der militärische Widerstand der verbündeten Osmanen weitestgehend gebrochen war und die ebenfalls zu den Mittelmächten gehörenden Bulgaren sogar um einen Separatfrieden nachgesucht hatten, begann die militärische Führung darüber nachzudenken, ebenfalls die Möglichkeiten für einen Waffenstillstand auszuloten. 

Insbesondere die im Verbund mit den Staaten der Entente kämpfenden und mittlerweile zur kriegsentscheidenden Macht avancierten USA verlangten immer offener die Entmachtung des Kaisers und eine Parlamentarisierung Deutschlands. Um die Ausgangsbedingungen für weitere Verhandlungen zu verbessern, wurden daher Überlegungen angestrengt, die im Reichstag vertretenen politischen Parteien stärker in den Prozess einzubinden, denn bislang waren sowohl die Reichsregierung als auch die militärische Führung nur dem Kaiser verantwortlich. 

Anders als heute im Rahmen der Berichterstattung über die sogenannte Dolchstoßlegende gerne kolportiert wird, stammte diese Idee jedoch keineswegs von der OHL, sondern vielmehr von Staatssekretär Paul von Hintze, dem damaligen Chef des Auswärtigen Amtes. Zwar konnte der Staatssekretär des Auswärtigen in einer Besprechung im deutschen Hauptquartier im belgischen Spa die beiden äußerst skeptischen Generale an der Spitze der OHL, Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, schließlich für seine Pläne gewinnen, doch kann mitnichten von einem ersten Schritt der führenden Militärs zur Flucht aus ihrer historischen Verantwortung gesprochen werden. Insbesondere Ludendorff leitete in der Folge zahlreiche Maßnahmen zur Stabilisierung der Westfront ein. Auch äußerte er sich mehrfach explizit gegen die Annahme der immer weitergehenden Forderungen der Alliierten für einen möglichen Waffenstillstand. 

Doch mit der Ernennung Prinz Max von Badens zum Reichskanzler und der von ihm verfolgten Einbindung der SPD und der Zentrumspartei hatten in Deutschland zwischenzeitlich Kräfte das Ruder in die Hand bekommen, die den Frieden um jeden Preis wollten. Noch im Oktober kam es zu einer Amnestie für politische Gefangene, bei der auch Karl Liebknecht freigelassen wurde. Überall im Land agitierten nun marxistische Gruppen und forderten offen den Umsturz. 

Das Auslaufen der deutschen Hochseeflotte wurde durch Matrosenaufstände verhindert. In der geplanten Operation der Seekriegsleitung sollte die britische Royal Navy gestellt und ihr eine Niederlage beigebracht werden. Heutige Historiker bewerten den beabsichtigten Vorstoß als militärisch sinnlos und begründen ihn mit einem falsch verstandenen Ehrenkodex der deutschen Admiralität. Tatsächlich lässt sich den vorliegenden Schriftdokumenten viel zeittypisches Pathos entnehmen, doch die Aktion war durchaus durchdacht. Die Flotte sollte in den Ärmelkanal auslaufen, dort die Themsemündung und die flämische Küste sowie den alliierten Schiffsverkehr angreifen. Mit diesem Manöver sollte die im schottischen Rosyth vor Anker liegende Grand Fleet zum Auslaufen provoziert werden. 

Die Briten hatten einen erheblich längeren Anfahrtsweg, auf dem die Deutschen U-Boot-Hinterhalte und Minenfelder eingeplant hatten. Bei der Rückkehr der deutschen Flotte sollte es zu einem Zusammenstoß mit den verbliebenen Teilen der Grand Fleet kommen. Zwar waren die vorhandenen britischen Kräfte in der Nordsee doppelt so stark wie die des Deutschen Reiches, jedoch wären diese, um die Seeblockade Deutschlands aufrechterhalten zu können, vermutlich nicht vollständig in den Einsatz gegen die deutsche Hochseeflotte geschickt worden. 

Der Chef der Seekriegsleitung sowie des Admiralstabs, Reinhard Scheer, war noch nach dem Krieg der Überzeugung, dass selbst bei einer Vernichtung des größten Teils der deutschen Flotte auf der britischen Seite zumindest Verluste im gleichen Umfang zu erwarten gewesen wären. Dies hätte wiederum eine günstige Ausgangslage für die Wiederaufnahme des U-Bootkrieges geschaffen, die von der Regierung in Berlin bereits auf US-amerikanische Forderungen hin eingestellt wurde. 

Auch war an der Westfront nicht mit einem zeitnahen vollständigen Zusammenbruch zu rechnen. Zwar waren die Deutschen in die Defensive geraten, jedoch zeigten die Erfahrungen der letzten Kriegsjahre, dass dem Gegner aus der Verteidigung heraus deutlich schwerere Verluste beizubringen waren als in der Offensive. Die Alliierten hatten zudem in sehr viel erheblicherem Ausmaß mit der damals grassierenden Spanischen Grippe zu kämpfen als die Mittelmächte. Allein die US-Armee hatte am Kriegs­ende mehr tote Soldaten durch die Krankheit als durch feindliches Feuer zu beklagen. Die französische Armee ist in den Krieg mit deutlich geburtenschwächeren Jahrgängen eingetreten als alle anderen Nationen. Zahlreiche Aufstände im Inneren hatten die Moral der Franzosen geschwächt. 

Obwohl die Mittelmächte zahlenmäßig deutlich unterlegen waren, hatten die Alliierten 40 Prozent höhere militärische Verluste zu verkraften. Hindenburg ging im Oktober 1918 davon aus, dass die Front auf jeden Fall noch über den Winter zu halten wäre. Sicherlich waren die Alliierten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu besiegen gewesen, jedoch hätte ein hinhaltender Widerstand möglicherweise zu besseren Waffenstillstands- und Friedensbedingungen geführt und ein erneuter Weltkrieg wäre Europa so erspart geblieben.