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11.01.19 / »Wirklichkeitswissenschaft« und Technikfolgen / Vor 50 Jahren starb Deutschlands erster Inhaber eines ausdrücklich für Soziologie geschaffenen Lehrstuhls, Hans Freyer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-19 vom 11. Januar 2019

»Wirklichkeitswissenschaft« und Technikfolgen
Vor 50 Jahren starb Deutschlands erster Inhaber eines ausdrücklich für Soziologie geschaffenen Lehrstuhls, Hans Freyer
Erik Lommatzsch

Auf den ersten in Deutschland explizit für Soziologie geschaffenen Lehrstuhl wurde 1925 der Soziologe, Historiker und Philosoph Hans Freyer berufen. Als Wissenschaftler wirkte der Begründer der sogenannten Leipziger Schule wegweisend, einerseits für die Weiterentwicklung der Soziologie, anderseits auch deutlich über deren Grenzen hinaus. Sein Interesse galt den großen Linien, der Deutung seiner unmittelbaren Gegenwart aus der Geschichte bis hin zu künftigen Entwicklungen – ein Anliegen, das unvermeidbar eng mit dem Bereich des Politischen verbunden ist.

Geboren wurde Freyer 1887 in Leipzig. In Greifswald sowie in seiner Heimatstadt studierte er Theologie, Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie. Nach der 1911 erfolgten Promotion war er für ein Jahr an der von Gustav Wynecken begründeten Freischulgemeinde Wickersdorf als Lehrer tätig. Diese Tätigkeit ist im Zusammenhang mit der Jugend- und Lebensreformbewegung zu sehen, durch die Freyer stark beeinflusst wurde. Er gehörte auch zum „Sera-Kreis“ des Verlegers Eugen Diederichs. Hier sowie vor allem unter dessen Autoren, zu denen dann auch Freyer gehörte, fand sich eine Vielzahl von Intellektuellen, die der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft skeptisch gegenüberstanden und andere Ansätze suchten.

Geprägt wurde Freyer durch Georg Simmel, einen Vertreter der Lebensphilosophie, bei dem er 1913 die Arbeit an seiner Habilitation aufnahm. Verzögert durch den Ersten Weltkrieg, in dem er 1918 verwundet wurde, und Simmels Tod 1918 erfolgte die entsprechende Qualifikation erst 1920 über die Frage der „Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts“. 

Nachdem er für einige Semester in Kiel vor allem Kulturphilosophie gelehrt hatte, erfolgte 1925 der Ruf auf das Ordinariat in Leipzig. 1933 übernahm er hier zudem die Leitung des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte. In der „Machtergreifung“ von 1933 glaubte er von ihm für notwendig erachtete Prozesse zu erkennen. Freyer, in dessen Texten die NS-Machthaber mehr Nähe zu ihrer Ideologie feststellten als tatsächlich vorhanden, zog sich im Laufe der 1930er Jahre immer weiter zurück. Zum einen konzentrierte er sich auf historische Themen, zum anderen übernahm er ab 1938 eine Gastprofessur und wurde Leiter des Deutschen Kulturinstituts in Budapest. Der NSDAP war er nicht beigetreten. In einem vom Sicherheitsdienst der SS nach dem Staatsstreichversuch des 20. Juli 1944 angefertigten Protokoll findet sich eine Notiz, gemäß der der vormalige Leipziger Oberbürgermeister und führende Kopf des Widerstandes Carl Goerdeler Freyer nach dem Attentat perspektivisch für „Planungen auf dem Universitätsgebiet“ vorgesehen hatte. 

Nach Kriegsende konnte Freyer seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen, als politisch belastet wurde er nicht eingestuft. Erst auf Betreiben des marxistischen Philosophen Georg Lukács hin sah er sich gezwungen, in die westlichen Besatzungszonen zu wechseln. 1948 wurde er Mitarbeiter des Brockhaus-Verlages in Wiesbaden. Später lehrte er bis 1963 auch wieder, an der Universität Münster. Auf einen Lehrstuhl wurde er allerdings nicht wieder berufen. Die auch internationale Rezeption seines Buches „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1955, Gastprofessuren im Ausland, Ehrendoktorwürden und die Leitung des Weltkongresses des „Institut International de Sociologie“ im Jahr 1958 zeugen von der hohen Wertschätzung, die er dennoch innerhalb seines Faches genoss. Am 18. Januar 1969 ist Hans Freyer im heute zu Baden-Baden gehörenden Ebersteinburg gestorben.

Der Historiker Rolf Peter Sieferle ordnet Freyer in seinem Buch „Die Konservative Revolution“ in diese nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Strömung ein. Hier zu verorten ist beispielsweise die 1931 erschienene kleine Schrift „Revolution von rechts“, die den Blick weg von der – marxistischen – Klassenbetrachtung lenkt und den Begriff des Volkes in den Mittelpunkt stellt. Die Notwendigkeit der Bindung an Tradition und Herkunft, der „Verwurzelung“, betonte Freyer bereits in seinem frühen programmatischen Buch „Antäus. Grundlegung einer Ethik des bewussten Lebens“ von 1918.

Wesentliche Überlegungen Freyers galten der Beziehung zwischen den Komplexen „Leben“ und „Kultur“. Versuche, die Dinge rein rational oder lediglich abstrakt zu erfassen, überzeugten ihn nicht. Die konkrete Situation spielt eine entscheidende Rolle. Den Begriff der das „Leben“ formenden und von diesem ebenso geformten „Kultur“ verstand er nicht allein als Hochkultur. Für Freyer beinhaltet „Kultur“ menschliche Bereiche im umfassenden Sinne, also etwa auch Religion, Institutionalisierungen oder psychische Dispositionen. 

Als Klassiker gilt das 1930 erschienene Werk „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“. Im Titel kommt deutlich Freyers immer für notwendig erachtete Bindung an das Konkrete zum Ausdruck. Geschichte stellt sich für ihn als Abfolge von positiven und kritischen Epochen dar. Während in ersteren ein politischer Ordnungszustand vorliege, sei die kritische Epoche dadurch gekennzeichnet, dass die alte Ordnung aufgelöst, eine neue jedoch noch nicht ausgeformt worden sei. Seine Zeit, die kapitalistische „Entwurzelung“, sah er als kritische Epoche nach der Auflösung der ständischen Gesellschaft im vorhergehenden Jahrhundert. Dies erklärt auch, warum er den beginnenden Nationalsozialismus zunächst positiv einordnete. 

Neben einer Studie über Niccolò Machiavelli gilt vor allem die über 1000 Seiten umfassende „Weltgeschichte Europas“, die 1948 erschien, als sein historisches Hauptwerk.

Besonderes Augenmerk Freyers – hier nahm er eine Pionierrolle ein – galt der sich immer weiter entwickelnden Technik und deren Einfluss auf die Gesellschaft. Sieferle formuliert die nicht nur damals im politischen Umfeld Freyers verbreitete Befürchtung, dass „die vollständige Perfektion der Technik … eine Welt der Geschichts- und Kulturlosigkeit, ein zivilisatorisches Endstadium“ bedeuten könnte. Freyer versuchte in seinem Werk, die Gegensätze auszugleichen: „Man kann unendlich tief wurzeln und trotzdem in der konstruktiven Welt der Technik und der sozialen Organisation völlig zu Hause sein.“

Heute findet sich Hans Freyer in einer Reihe herausragender Denker seiner Generation, deren Werk zumeist ahistorisch auf wenige Stich- oder Reizworte reduziert wird. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Theoriegebäuden scheint daher vielen weitgehend entbehrlich zu sein.