Marine Le Pen hat entschieden: Der erst 23-jährige Geografiestudent Jordan Bardella wird die Liste des Rassemblement National (RN, Nationale Sammlungsbewegung) bei den Europawahlen am 26. Mai anführen. Der erfahrene EU-Parlamentarier Nicolas Bay, der sich ebenfalls Hoffnungen auf den Spitzenplatz gemacht hatte, gegen den aber die EU einen Prozess wegen Zweckentfremdung öffentlicher Gelder führt, muss sich mit Platz sieben auf der Liste begnügen.
Mit seinem neuen Spitzenkandidat präsentiert der RN nun ein frisches Gesicht, doch zugleich folgt er damit der Tendenz der Systemparteien, eine Kaste von Berufspolitikern ohne Beruf im zivilen Leben heranzuzüchten. Der Sohn italienischer Einwanderer stammt aus kleinen Verhältnissen und wuchs unweit von Paris im Département Seine-Saint-Denis (93) auf, in dem die ethnischen Franzosen in der Gruppe der unter 18-Jährigen bereits 2005 nur noch 43 Prozent der legalen Bevölkerung ausmachten. Seine Mutter lebt bis heute in Saint Denis in einer Sozialwohnung. 2015 wurde er in die Abgeordnetenkammer der Region Île-de-France gewählt. 2018 folgte die Wahl in das Führungsgremium des damaligen Front National (FN, Nationale Front) und heutigen Rassemblement National sowie die Ernennung zum Vorsitzenden der FN-Jugendorganisation Génération Nation (GN). Nach der Niederlage von Le Pen bei den letzten Präsidentschaftswahlen wurde er offizieller Parteisprecher. Seither erweist er sich im Umgang mit den Medien als geschmeidig und talentiert.
Für Jean Messiha, Mitglied des Führungsgremiums des RN, ist dies aber nicht der Hauptgrund für Bardellas Spitzenposition: „Er gehört zur Generation, die am stärksten unter den von der EU angerichteten Schäden leidet. Seine Generation ist am meisten von Arbeitslosigkeit, von Gesundheitsproblemen und von Wohnungsnot betroffen, Probleme, die sich aus der Politik ergeben, die die EU aufzwingt. Seine Generation ist Zeuge der technokratisch-liberalen, anti-nationalen Wende der EU.“
Andere Parteikader sehen Bardella als eine Marionette von Le Pen in Brüssel. Auf allen wesentlichen Wahlkampfveranstaltungen wird er denn auch von der Parteichefin begleitet. „Von Europa hat er keine Vision. Er hat überhaupt keine Vision. Er ist zu jung, um echte Überzeugungen zu haben“, bemerkt ein Kader hinter vorgehaltener Hand, der auch darauf hinweist, dass der junge Kandidat weder Erfahrungen mit der Funktionsweise des Apparats der EU noch den meistens sehr technischen europäischen Dossiers hat. Diese Einschätzung teilt auch
Jean-Marie Le Pen, der Vater, Vorgänger und politische Gegner von Marine Le Pen: „Er ist absolut nicht fähig, sich gegenüber den Abgeordneten der anderen Parteien zu behaupten.“