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18.01.19 / Identitätsbildung über Geschichtsbewusstsein / Mit der MGH wollte der preußische Reformer Karl vom und zum Stein den Deutschen ihre lange gemeinsame Historie vor Augen führen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-19 vom 18. Januar 2019

Identitätsbildung über Geschichtsbewusstsein
Mit der MGH wollte der preußische Reformer Karl vom und zum Stein den Deutschen ihre lange gemeinsame Historie vor Augen führen
Erik Lommatzsch

Mitte der 1820er Jahre machte Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein seiner Enttäuschung Luft: „Man macht kostbare naturhistorische Expeditionen von Wien, München und Berlin nach Ägypten, Nubien, Brasilien … man erforscht … das Leben und Weben der Kolibris, Gazellen und Affen mit und ohne Schwänzen, aber für die Geschichte unseres Volkes geschieht nichts.“ Das große Projekt der letzten Lebensphase des preußischen Reformers, die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“, bis heute unter dem Namen „Mo­nu­menta Germaniae Historica“ existent, war zunächst auf wesentlich weniger Resonanz gestoßen, als sich dessen Initiator erhofft hatte. Vor allem die erforderlichen Geldmittel blieben aus.

Die Idee, die Quellen des Mittelalters, somit der „Anfänge“ der deutschen Geschichte, zu sammeln und auch im Druck zugänglich zu machen, geht bereits auf das 18. Jahrhundert zurück. Die antinapoleonischen Befreiungskriege und die aufkommenden patriotisch-nationalen Einheitsbestrebungen forcierten derartige Gedanken. In Preußen versandeten offizielle Vorbereitungen einer solchen Quellensammlung jedoch. Der 1815 auf dem Wiener Kongress als Nachfolger des Heiligen Reiches gegründete Deutsche Bund verfolgte andere politische Linien. Schließlich war es die Privatinitiative Steins, der zu dieser Zeit kein Staatsamt mehr innehatte, die ein derartiges Vorhaben in Gang setzte. Stein, der selbst intensive historische Studien betrieb und dem insbesondere vom deutschen Hochmittelalter ein – nach heutiger Einschätzung – sicher etwas verklärtes Bild vor Augen stand, wollte mittels dieser Dokumente „zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und Gedächtnis unserer großen Vorfahren“ beitragen. Das Anliegen der Versicherung der Identität auf wissenschaftlich fundierter Grundlage spielte eine maßgebliche Rolle.

Stein, der die Zeit der Sammlung und Bearbeitung der Quellen zunächst nur auf einige Jahre und den dafür notwendigen Mitarbeiterstamm auf höchstens ein knappes Dutzend Gelehrte geschätzt hatte, versammelte am 20. Januar 1819 in seiner Wohnung in Frankfurt am Main die Bundesversammlungsgesandten Badens, Bayerns, Mecklenburgs und Württembergs. Dies gilt als Gründung der Gesellschaft, die mit Erscheinen des ersten Quellenbandes „Monumenta Germaniae Historica. Annales et chronica aevi Carolini“ (Historische Denkmäler Deutschlands. Annalen und Chroniken der Karolingerzeit) im Jahr 1826 unter dem Obertitel dieses Werkes bekannt wurde, also „Monumenta Germaniae Historica“, auch abgekürzt als „MGH“. „Monumenta“ bezieht sich hier auf schriftliche Quellen und nicht auf Bauwerke, was man landläufig mit dem Begriff „Denkmäler“ eher in Verbindung bringen würde.

Bis heute existiert die Institution der MGH. Sie ediert nach wie vor die bei Weitem wichtigste Quellensammlung zur mittelalterlichen Geschichte. In fünf Abteilungen werden die Schriften herausgegeben: erzählende Quellen (Scriptores), Rechtsquellen (Leges), Urkunden (Diplomata), Briefe (Epistolae) und sonstige Quellen (Antiquitates), zu denen beispielsweise Dichtungen zählen. Hinzu trat eine maßgebliche Fachzeitschrift, seit der letzten Umbenennung 1951 unter dem Titel „Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters“.

Steins Gründung fiel in die Zeit der Entstehung einer großen Anzahl von deutschen regionalen Geschichtsvereinen und eines entsprechenden historischen Interesses. Dennoch hätte er wohl eine kontinuierliche 200-jährige und auch künftige Existenz „seiner“ MGH damals kaum für möglich gehalten. Vor allem zu Anfang musste er das Projekt mit erheblichen eigenen Mitteln sichern. Er fertigte auch selbst Quellenverzeichnisse an, beispielsweise eine Liste der Handschriften zur mittelalterlichen deutschen Geschichte in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek. Dass Preußen zu Anfang gar nichts beisteuerte, hat ihn geschmerzt. Seine von ihm wohl als patriotisch verstandene Reaktion, das Angebot des russischen Zaren Alexander I. zur Finanzierung des Ganzen abzulehnen, hat er später bereut. 

Hauptsubskribent des ersten Bandes mit den Karolingerdokumenten – Stein hatte sich spätestens bei dessen Vorliegen den großen Durchbruch seiner Initiative versprochen und das Unternehmen intensiv beworben – war der englische König. Der österreichische Kaiser nahm lediglich ein Exemplar in preiswerter Ausführung ab. Friedrich von Gentz, enger Mitarbeiter des österreichischen Staatskanzlers Klemens von Metternich, meinte, dem Kaiser könne die Arbeit der MGH „unmöglich angenehm“ sein. 

Die Gesellschaft und deren Wirken wurden von offizieller Seite stark mit der aufkommenden, als revolutionär-umstürzlerisch betrachteten Nationalbewegung in Verbindung gebracht, daher die in den Anfangsjahren deutlich demonstrierte Distanz. Hinzu kam, dass der ehemalige Minister und Reformer Stein mit Misstrauen betrachtet wurde.

Zum Ende seines Lebens konnte er dennoch die ersten Erfolge der MGH sehen. In enger Verbindung stehen diese mit dem Historiker Georg Heinrich Pertz, der hauptamtlich ab 1823 hier tätig war und die MGH bis 1873 leitete. Historisch-kritisch setzte er für die Edition der mittelalterlichen Texte grundlegende Maßstäbe. Als Sekretär der Gesellschaft wirke langjährig Johann Friedrich Böhmer, auf den die „Regesta Imperii“ zurück­gehen, eine Sammlung von Inhaltsangaben mittelalterlicher Quellen, die Überblick und Erschließung erheblich erleichtert. Böhmer arbeitete nicht nur honorarfrei, sondern half mit seinem eigenen Vermögen, die Arbeit der Gesellschaft zu sichern.

Ansässig waren die MGH zunächst in Hannover, später in Berlin. 1875 erhielt die Gesellschaft den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Geführt wurde die nunmehrige „Zentraldirektion“ von Georg Waitz. In der NS-Zeit erfolgte 1937 die Umwandlung in das „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde“. Allerdings formierten sich die MGH bereits kurz nach Kriegsende wieder unter dem ursprünglichen Namen. Der Sitz wurde nach München verlegt, wo die Institution bis heute tätig ist und auch Projekte an anderen Einrichtungen, etwa Universitäten, koordiniert. Die Leitung oblag weiterhin stets renommieren Mediävisten, so etwa 1971 bis 1994 Horst Fuhrmann, der auch durch populäre Veröffentlichungen („Einladung ins Mittelalter“) hervorgetreten ist. Claudia Märtl, ausgewiesene Expertin für das späte Mittelalter, verlängerte 2014 aus Protest gegen Einsparungsmaßnahmen des Freistaates Bayern ihren Vertrag als Präsidentin der MGH nicht. Die Wertschätzung fundierter historischer Forschung war nicht nur zur Zeit Steins ein großes Problem und die Hintergründe sind vielleicht gar nicht so verschieden. Regulär besetzt ist die Präsidentschaft der MGH erst wieder seit dem vergangenen Jahr.