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18.01.19 / Ein Stück aus dem Tollhaus / Der letzte Hexenprozess in Europa – bei dem es gar nicht um Hexerei ging

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-19 vom 18. Januar 2019

Ein Stück aus dem Tollhaus
Der letzte Hexenprozess in Europa – bei dem es gar nicht um Hexerei ging
Klaus J. Groth

Während der Totenbeschwörung kam die Polizei: Das Medium, die Schottin Helen Duncan, wurde am 19. Januar 1944 verhaftet und im letzten Hexenprozess in Europa vor Gericht gestellt. Doch in Wahrheit ging es gar nicht um Hexerei.

Alle Beteuerungen ihrer Unschuld halfen nicht. Der Londoner Strafgerichtshof Old Bailey befand die Mutter von sechs Kindern am 3. April 1944 für „guilty“ – schuldig. Zu ihrem Glück war die im Mittelalter übliche Verbrennung auf dem Scheiterhaufen nicht mehr zeitgemäß. Duncan erhielt nur eine Gefängnisstrafe. Der Hexenprozess ging als Stück aus dem Tollhaus in die britische Justizgeschichte ein.

Die Verhandlung vor dem Hohen Gericht ließ sich an Absonderlichkeit nicht überbieten. Die Schottin war ein populäres Medium, das angeblich mit den Geistern Verstorbener Kontakt aufnahm und sie durch Materialisation aus ihrer Gruft hervorlocken konnte. Nun war und ist das Erscheinen von Geistern in England nichts Besonderes. Bekanntlich spuken sie in vielen der Schlösser und Burgen herum. Warum sollten sie nicht auch auf Zuruf bei den Séancen der Helen Duncan erscheinen dürfen?

Schon als Kind hatte Helen erleben müssen, dass ihre Fähigkeiten auf Unverständnis und Ablehnung stießen. Die 1897 in Callander geborene Tochter eines Dachdeckers hatte ihre erste Erscheinung in der Küche der elterlichen Wohnung. Ein Mann stand vor ihr, der sich Johnny nannte. Nur sie sah ihn, sonst niemand. Ihre Mutter verbot ihr, darüber zu sprechen. In der Schule behauptete Helen, dass Lösungen von Rechenaufgaben aus ihrem Griffel geflossen seien. Ihre Mitschüler verspotteten die „Hellish Nell“, die höllische Nell. Nach der Schule arbeitete sie in einer Bleichfabrik. Nebenbei hielt sie Séancen ab, die sich als gute Einnahmequelle erwiesen.

Bald reiste Helen Duncan kreuz und quer über die Insel. Bei ihren spiritistischen Sitzungen sonderte sie einen weißen Stoff ab, den sie Ektoplasma nannte. Wie eingehüllt in eine Wolke, so berichteten Teilnehmer, erschienen Verstorbene, die sie auf Bitten von Angehörigen rief. Okkulte Partys mit dem Medium waren der Hit in der britischen Gesellschaft.

Ihrer Popularität tat es keinen Abbruch, dass der Wissenschaftler und Geisterjäger Harry Price sie 1931 als Betrügerin entlarvte. Der Direktor des National Laboratory of Psychical Research machte einige Experimente mit ihr. Das geheimnisvolle Ektoplasma identifizierte er als einen Brei aus Mull, Toilettenpapier und geronnenem Eiweiß, das Duncan vor ihrer Show schluckte und, angeblich in Trance, wieder ausspie. Ein Foto zeigt den „fetten weiblichen Ganoven“, wie Price die Dame nannte, in einem voluminösen schwarzen Umhang, aus ihrem Mund quillt ein weißer Strang bis auf die Erde, der auffällig an abgerolltes Toilettenpapier erinnert. 1934 wurde sie wegen Betrügerei zu einer Geldstrafe verurteilt, zahlte und machte weiter. Schließlich hatte sie die Kinderschar und einen kriegsversehrten Ehemann zu versorgen.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hielt sie Séancen für Familien von vermissten Soldaten ab. Ihr gelang es angeblich, einen verschollenen Matrosen zu „materialisieren“. Der Mann berichtete, dass er beim Untergang des Kriegsschiffes „HMS Barham“ ertrunken sei. Tatsächlich wurde das Schiff durch ein Torpedo eines deutschen U-Bootes versenkt. Die britische Kriegsmarine hatte den Untergang vor der Öffentlichkeit verheimlicht. Ebenso berichtete Duncan vom „Verlust eines großen Schlachtschiffes“. Das pass­te auf den Untergang der „HMS Hood“, von dem zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste.

Nun geriet die Schottin ins Visier des Inlandsgeheimdienstes. Dort glaubte niemand an Hexerei, vielmehr wurde vermutet, dass sie eine Spionin sei wie die Tänzerin Mata Hari und einen Informanten in höchsten militärischen Kreisen habe. Das war fatal. Die Alliierten bereiteten im Frühjahr 1944 den D-Day, die Invasion in der Normandie, vor. Wusste die verdammte schottische Hausfrau auch davon? Sie musste umgehend zum Schweigen gebracht werden.

Die Anklage tat sich schwer, Belastungsmaterial zu finden. Sie förderte schließlich ein vergilbtes Gesetz aus dem Jahr 1735 zutage, das wie gemacht war für den Fall Helen Duncan. Der Witchcraft Act erklärte denjenigen für schuldig, der die Totenruhe stört, indem er die Geister der Verblichenen erweckt.

Der Prozess dauerte sieben Tage. Er fand in den Zeitungen ein breites Echo. Genüsslich berichtete die „Daily Mail“ über jede Träne, die „Hellish Nell“ vergoss. Der Prozess geriet zur peinlichsten Veranstaltung, die das ehrenwerte Gericht je erlebt hatte. Für die vom deutschen „Blitz“ geplagten Engländer war er beste Unterhaltung. Nells Anwalt ließ über 40 Zeugen aufmarschieren. Die Richter kamen unter ihren Perücken ordentlich ins Schwitzen.

Am 3. April fiel dann das Urteil. Zeternd nahm Helen Duncan es entgegen. Neun Monate ohne Bewährung. Winston Churchill war „not amused“. In einem Schreiben an den Innenminister ohne Anrede und Gruß wetterte er: „Was hat dieser Prozess den Staat gekostet? Schicken Sie mir einen Bericht, warum sich ein moderner Gerichtshof auf das Hexerei-Gesetz von 1735 berufen konnte.“ Gerüchte machten in London die Runde. Danach sollte auch der Premierminister die Dienste der höllischen Helen in Anspruch genommen haben.

Die Schottin wurde nach ihrer Entlassung aus dem Frauengefängnis Holloway Prison sofort wieder aktiv. Weitere Anzeigen gegen sie verliefen im Sande. 1951 wurde das Witchcraft-Gesetz aufgehoben, 1956 starb die letzte Hexe Schottlands.

Vergessen ist sie nicht. In Callander erinnert ein Denkmal an die berühmteste Frau des Ortes. Ihre Nachkommen und Anhänger der spiritistischen Kunst bemühen sich noch heute um ihre Rehabilitierung. Zu ihnen gehört ein Baron, der ihre Verurteilung laut Bericht der lokalen Presse für „eine Ungerechtigkeit wie die Schand­urteile gegen Hexen im 16. und 17. Jahrhundert“ hält. Bisher waren alle Bemühungen zur Rettung der Ehre von Helen Duncan vergeblich, einschließlich eines Gesuchs an den damaligen Premierminister Tony Blair. Der erklärte sich für nicht zuständig.