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18.01.19 / Wir leben im Zeitalter der Extreme / Zwischentöne sind nicht mehr erlaubt: Alles ist ganz oder gar nicht, Freund oder Feind, einzige Wahrheit oder komplette Lüge

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-19 vom 18. Januar 2019

Wir leben im Zeitalter der Extreme
Zwischentöne sind nicht mehr erlaubt: Alles ist ganz oder gar nicht, Freund oder Feind, einzige Wahrheit oder komplette Lüge
Erik Lommatzsch

Opposition ist „Spaltung“, abweichende Meinung ist „Hetze“, Kritik ist „Hass“: Abgewogene Debatten und gepflegter, respektvoller Streit scheinen in Deutschland kaum noch möglich zu sein. Eine Kultur des Extremen vergiftet und  blockiert die öffentliche Diskussion auf immer mehr Feldern.

Die Studien des britischen Historikers Eric Hobsbawm (1917–2012) sind – obschon sie allein wegen der marxistischen Grundierung ihres Autors für Widerspruch sorgten – zweifelsfrei große gelehrte Werke, aus denen viel Anregendes zu entnehmen ist. 1995 erschien in deutscher Übersetzung seine „Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Gemäß einer – momentan weitgehend üblichen, aber nicht völlig unumstrittenen Periodisierung – handelt es sich bei ihm um das „kurze 20. Jahrhundert“. Als Eck­daten gelten der Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 und das Ende der Sowjetunion 1991. Diese Epoche bezeichnete Hobsbawm als das „Zeitalter der Extreme“, so auch der Obertitel seines Buches. 

Um Entwicklungen und Ereignisse des „kurzen 20. Jahrhunderts“ mit dem lateinischen Wort „extremitas“ („das Äußerste“) in Verbindung zu bringen, ist kein langes Überlegen notwendig. Allerdings lässt sich der Gedanke, in einem „Zeitalter der Extreme“ zu leben, zeitlich durchaus bis in die unmittelbare Gegenwart verlängern, gerade wenn man medial und mithin öffentlich geführte Debatten in Deutschland in den Blick nimmt. 

Die Fähigkeit, Dinge abgestuft zu betrachten, ein Für und Wider abzuwägen, scheint immer weniger gefragt zu sein. Es steht zu befürchten, dass sie mitunter gar nicht mehr vorhanden ist. Wünsche, die auf der eigenen politischen Agenda stehen, oder am Reißbrett entstandene Konstruktionen werden – bei Weitem nicht nur verbal – der Wirklichkeit übergestülpt, in der Hoffnung, letztere möge sich dann schon anpassen. Der Wille und das Bestreben nach Differenzierung schwinden. Selbst leiseste Kritik an den eigenen Ansichten führt nicht zur sachlichen Auseinandersetzung, sondern zur pauschalen Verdammung.

„Europafeinde“ ist ein gern genutztes Wort, um die Kritiker der vereinnahmenden EU-Politik unter Führung von Jean-Claude Juncker zu diffamieren. Unbedingt zu verhindern sei ein „Auseinanderbrechen“ Europas. Den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle (1890–1970), der seinerzeit ein „Europa der Vaterländer“ anstrebte, würde ein solches Verdikt heute wahrscheinlich ebenso treffen wie Viktor Orbán oder die Brexit-Befürworter. 

Wie weit sich die Waage inzwischen zum Extrem geneigt hat, zeigt sich daran, dass man die offizielle „Europäische Idee“, also den immer stärkeren Zusammenschluss unter Brüsseler Gemeinschaftsideologie und unter immer weitergehender Aufgabe des Eigenen, sogar auf dem Rücken der Holocaust-Opfer austragen darf. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat im Oktober 2018, gemeinsam mit seiner Mitstreiterin Ulrike Guérot, schon einmal „symbolisch“ die „Europäische Republik“ ausgerufen. 

Er schreckte weder davor zurück, dem seit 1958 amtierenden ersten Präsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Walter Hallstein (1901–1982) eine nie getane Äußerungen anzudichten („Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee“), noch dessen Antrittsrede nach Auschwitz zu „verlegen“, um die Verderbtheit des Nationen-Gedankens zu unterstreichen. Doch Hallstein hat seine Antrittsrede nicht in Auschwitz gehalten (siehe PAZ 02/2019). Das Land Rheinland-Pfalz zeichnet den EU-Propagandisten Menasse in diesem Monat trotzdem mit der Carl-Zuckmayer-Medaille aus.

Zwei politische Lager existieren derzeit in Deutschland. Eines wird fast ausschließlich von der AfD repräsentiert, das andere von allen übrigen in Bundestag und Landtagen vertretenen Parteien. Diese Konstellation wird allerdings nicht als das Ringen von demokratischen Kräften betrachtet,  dabei geschieht das Ganze auf dem Boden des Grundgesetzes. Und würde man sich der Mühe einer Analyse unterziehen, fände man mitunter sogar inhaltliche Schnittmengen. Dennoch kursiert das von den großen Medien gern aufgegriffene Stichwort „Spaltung“, wo immer sich von der Regierungsdoktrin abweichende Meinungen zeigen. Und von denjenigen, die sich zurzeit stark als Sprachrohr der Regierungslinie geben, wird auch der „Schuldige“ an dieser „Spaltung“ klar ausgemacht: Die Kritiker der gegenwärtigen Linie, vor allem die AfD und deren Sympathisanten. 

Unangenehme, weil schwer mit dem eigenen Weltbild zu vereinbarende Nachrichten erhalten aus derselben Richtung die Klassifikation „Hetze“. Der Tatsachengehalt spielt keine Rolle, ebenso wenig der Umstand, dass die Zuschreibung „Hetze“ die Unterstellung enthält, die Unwahrheit behauptet zu haben. 

Mit welcher Unbefangenheit ein Begriff wie „Folter“ per Gießkannenprinzip mit Menschen, die gern als Flüchtlinge bezeichnet werden, in Verbindung gebracht wird, um Hilfsansprüche zu fördern, ist erschreckend. Ebenso erschreckend ist die entsprechende Folge: Die Verharmlosung des Begriffs „Folter“, der damit universell auf alle auf der „Flucht“ erfahrenen Unbill angewendet wird, diskreditiert das Leid wirklicher Folteropfer auf unsägliche Weise. 

Ähnliches gilt für den inzwischen pflichtschuldigst und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in so ziemlich jeder „Flüchtlingsgeschichte“ gedankenfrei hinzugesetzten Begriff „Trauma“. Die Neigung zum extremen Ausdruck und zugleich die dahinterstehende Absicht sind unverkennbar. Zumal davon auszugehen ist, dass Nachfragen bezüglich „Folter“ und „Trauma“ nicht gestellt werden.

Das Feld der Undifferenziertheit, der Extreme wird immer weiter. Früher hieß es Winter, heute „Schneechaos“. Bei einer positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hat man es mindestens mit einem „Jobwunder“ zu tun. Zwischen vorbehaltloser Bejubelung der „Ehe für alle“ und „Homophobie“ scheint es keine weiteren möglichen Standpunkte zu geben. Mit der Lage in Brasilien muss man sich nicht weiter auskennen, aber der – dort von einer Mehrheit gewählte – neue Präsident Jair Bolsonaro wird von der ARD aufgrund einer Zitatensammlung offiziell als „rechtsextrem“ bezeichnet.

Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961) mag hier stellvertretend für eine sehr aktuelle deutsche Neigung zu Extremen angeführt werden. Unbestreitbare Verdienste des niedersächsischen SPD-Ministerpräsidenten in der Nachkriegszeit wurden mit Bekanntwerden biografischer Tatsachen, seiner Tätigkeit während des Zweiten Weltkrieges im besetzen Polen, öffentlich quasi für nichtig erklärt. Einst ehrende Namensgebungen wurden rückgängig gemacht. Kritische Gesamtwürdigungen, die in der Lage sind, Verdienste um das demokratische Gemeinwohl, das Verhalten unter den Bedingungen einer Diktatur und eine wie auch immer geartete „Verstrickung“ nebeneinander zu stellen, scheinen das Fassungsvermögen vieler Zeitgenossen zu übersteigen.

Auch auf anderen Feldern wächst die Neigung zum Extrem, letztlich zum Schaden der offensichtlichen Absicht. Wenn alle Schüler immer bessere Noten bekommen, wird auch dem Letzten klar, dass dies mit der eigentlich erbrachten Leistung nur noch bei wenigen etwas zu tun hat.

Und wenn die ehemalige SPD-Abgeordnete Gesine Dräger sich für eine Erhöhung der Diäten der Hamburgischen Bürgerschaft mit dem Argument ausspricht, manch Abgeordneter hätte locker eine 80-Stunden-Wochen, so stellt sich folgende Alternative: Hat sie eine eklatante Matheschwäche (oder wer bitte leistet ohne jeglichen freien Tag täglich über elf Stunden reine, produktive Arbeit und das jahrelang) oder eine Neigung zu extremen, unüberlegten Aussagen?

Momentan wird eine bereits erreichte Kulturstufe – das doch eigentlich selbstverständliche Bemühen, Dinge zu erfassen, in ihren Dimensionen einzuordnen und entsprechend sprachlich abzubilden – offenbar vielerorts bereitwillig verlassen. Der vor wenigen Monaten verstorbene Journalist und Schriftsteller Ulrich Schacht (1951–2018) rief einmal aus: „Kultur ist Differenz!“