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25.01.19 / Mit »Vorbeugungsgesprächen« und Sippenhaft / Wie die DDR jenseits von Mauer und Schießbefehl die »Republikflucht« zu bekämpfen suchte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-19 vom 25. Januar 2019

Mit »Vorbeugungsgesprächen« und Sippenhaft
Wie die DDR jenseits von Mauer und Schießbefehl die »Republikflucht« zu bekämpfen suchte
Heidrun Budde

Republikflucht“ – dieses Wort versetzte SED-Funktionäre in Panik. Bis zum Mauerbau verließen Tausende die DDR gen Westen, weil sie ein Leben im neuen Sozialismus nicht wollten. 1961 sperrte der Staat seine Bürger ein, drohte mit strafrechtlichen Konsequenzen wegen des „ungesetzlichen Verlassens“ und wachte mit vielfältigen Maßnahmen darüber, dass kein „wertvoller“ Bürger entkommen konnte. Streng geheim wurden „Vorbeugungsgespräche“ angewiesen, die eine Flucht verhindern sollten, was allerdings nicht immer gelang, und im Bestrafen der zurückgebliebenen Angehörigen war dieser Staat ausgesprochen gründlich.

Am 28. März 1978 erließ Oberst Rudolf Mittag von der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Rostock umfangreiche „Arbeitshinweise zur Durchführung von Vorbeugungsgesprächen“, die das geradezu hysterische Misstrauen gegenüber den DDR-Bürgern offenbaren. Mittag stellte seinen Anweisungen voran, dass „sich Vorbeugungsgespräche als eine mögliche und in der Praxis bereits bewährte Maßnahme zur vorbeugenden Verhinderung von ungesetzlichen Grenzübertritten durch Bürger der DDR erwiesen“ hätten. Beim „Vorliegen geringster Anzeichen auf ein beabsichtigtes illegales Verlassen der DDR“ waren solche Vorbeugungsgespräche „unter Wahrung der Konspiration“ durchzuführen. Der bloße Verdacht reichte aus, wenn bekannt wurde, „… die Person befindet sich in gesellschaftlichen, beruflichen, familiären, Liebes-, Ehe- oder ähnlichen Konflikten und es liegen Anzeichen für ein beabsichtigtes ungesetzliches Verlassen der DDR vor bzw. es muss mit einer derartigen Kurzschlussreaktion gerechnet werden; … die Person unterhält Kontakte zu Bürgern Westberlins, der BRD und anderen nichtsozialistischen Staaten, die die Gefahr für eine mögliche Entschlussfassung zum ungesetzlichen Verlassen der DDR beinhalten; … die Person plant eine Reise in ein sozialistisches Land, die zur Vorbereitung oder Verwirklichung des ungesetzlichen Verlassens der DDR ausgenutzt werden soll“. 

Egal, ob der Bürger tatsächlich eine Fluchtabsicht hatte oder ihm das heimliche Zuträger nur unterstellten, er wurde ein Kandidat für zwangsweise Gespräche. Bemerkenswert ist dabei, dass die Staatssicherheit zwar das Zentrum der Aktivitäten war, aber bei der Durchführung dieser Aktionen alle „progressiven Kräfte“ mithelfen sollten. Wörtlich: „In diesem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, ob zu diesem Vorbeugungsgespräch zweckmäßigerweise staatliche oder gesellschaftliche Kräfte bzw. fortschrittliche Einzelpersonen oder Erziehungsträger hinzugezogen werden sollen.“ Es war ein Aufruf an alle politischen Fanatiker zum Mitmachen. Ausdrücklich werden hier genannt „Staatsfunktionäre, Parteisekretäre, Betriebsleiter, Kaderleiter, Sicherheitsinspektoren, BGL-Vorsitzende (Gewerkschaft), FDJ-Sekretäre, Brigadiere, Lehrer, Erzieher, Volksvertreter oder andere progressive Kräfte“, die mit „Eigenverantwortlichkeit, Ideenreichtum und einer vertretbaren Risikobereitschaft“ agieren sollten. 

Unter Ausnutzung des „Überraschungsmomentes“ konnte beispielsweise der Betriebsleiter gemeinsam mit dem SED-Parteisekretär den Mitarbeiter in sein Büro bestellen, um ihn dann überfallartig im Sinne der Anweisungen der Staatssicherheit mit Verdächtigungen zu konfrontieren. Das Gespräch war „zweckmäßig“ zu führen um einzuschüchtern, zu verängstigen und zu belehren. Ob wütendes Anbrüllen oder aufgesetzte Freundlichkeit, alles war möglich, und der ins Visier geratene Bürger hatte keine Chance auf einen Beistand, schon gar keinen juristischen. Es war Psychoterror, der allein dem Machterhalt diente.

Doch trotz des umfangreichen Überwachungssystems gab es immer wieder gelungene Fluchten, auf die das politische Regime mit perfiden Maßnahmen reagierte. So wurde beispielsweise einem Liebespaar Ost-West die Eheschließung mehrmals ohne Angabe von Gründen verweigert. Der West-Berliner Freund organisierte daraufhin die Flucht, die gelang. Die junge Frau reiste nach Ost-Berlin, und erst dort wurde sie plötzlich mit der Ansage konfrontiert, dass nun sofort die Flucht erfolgen könne, wenn sie das wolle. Die Frau zögerte nicht und erreichte West-Berlin unversehrt. Die Eltern mussten fortan mit dem Makel leben, einen „Republikflüchtling“ in der Familie zu haben. Der Vater verlor den Beruf, weil er sich weigerte, die Tochter zu verstoßen, und die Mutter trat aus Protest gegen den Umgang aus der SED aus. Jahrzehntelang wussten die Eltern nicht, was mit dem Hausstand ihrer Tochter passiert war, denn sie durften die Wohnung nicht mehr betreten und jede Auskunft wurde verweigert. Erst 2001 konnte eine Akte aufgefunden werden, die aufzeigt, wie damals vorgegangen wurde.

Am 8. September 1980 betraten drei Personen, darunter ein Unterleutnant der Volkspolizei, die Wohnung der jungen Frau und machten eine allumfassende Bestandsaufnahme. Sie registrierten beispielsweise eine Blumenbank, eine dreiarmige Lampe, ein Nähkästchen, ein Likörservice, eine Sammeltasse, einen Ascher, einen Kalender, eine Zierkerze, zwei Wandteller, einen Wandläufer, 13 Geschirrtücher, zwei Paar Topflappen, sieben Seifenlappen, drei Seidentücher, sieben Bücher, eine Schallplatte, acht Blumenvasen, eine Teekanne, vier Töpfe, zwei Pfannen, zehn Küchenmesser, sechs Kuchengabeln, drei bemalte Brettchen, einen Treteimer, einen Staubsauger, sechs Kittelschürzen und einen Kleiderhaken. Nach dieser gründlichen Registratur wurde eine handschriftliche „Aufnahmeliste für Grundmittel und inventarisierungspflichtige Gegenstände“ angefertigt. Jede registrierte Position bekam eine geldmäßige Bewertung, wie beispielweise ein Badehandtuch: 4,00 Mark, ein Staubsauger: 40,00 Mark, ein runder Spiegel: 2,00 Mark, ein Ascher: 0,50 Mark, ein Wecker: 1,00 Mark, ein Sofakissen mit Füllung: 2,50 Mark, eine Damenarmbanduhr: 50,00 Mark, drei Schüsseln: 3,00 Mark, ein Abfalleimer 2,00 Mark oder vier Töpfe: 5,00 Mark. Danach wurde eine Art Schnäppchenmarkt eröffnet. Jede fremde Person durfte etwas kaufen. 

So sind diese Einkäufe in der Akte belegt: Dora H. erwarb die Waschmaschine (50,00 Mark), die Auslegeware (50,00 Mark) und diverse Artikel (118,00 Mark). Karin B. entschied sich für die Wolldecke (18,00 Mark), die Lampe (10,00 Mark) und diverse Artikel (45,00 Mark). Marie S. gefiel die Armbanduhr (50,00 Mark) und eine Jacke (12,00 Mark). Emma S. kaufte Wolle (28,35 Mark), die Kuchenplatte (8,00 Mark) und diverse Artikel (19,80 Mark). Herr H. ging mit dem Tisch (60,00 Mark) und der Gardine (35,00 Mark) nach Hause. Was nicht zu verkaufen war, musste die Abteilung Wohnungspolitik des Rates der Stadt selbst aufkaufen. Die Akte endet mit einer „Vermögensübersicht“, die ausweist, dass dieser „Republikflüchtling“ dem Staat eine Gesamtsumme von 5724,58 Mark einbrachte. 

Die Eltern der jungen Frau wuss­ten von diesem Verkauf nichts, und er widersprach auch der Verfassung, in der zu lesen war, dass das persönliche Eigentum gewährleistet werde (Artikel 11) und jeder Bürger das Recht auf Unverletzlichkeit seiner Wohnung habe (Artikel 37).

Am 26. Mai 1983 heiratete das Liebespaar Ost/West in West-Berlin. Die jungen Leute hatten etwas gewartet, in der Hoffnung, dass dann die Eltern aus dringenden familiären Gründen an der Feier hätten teilnehmen dürfen. Die Mutter der Braut stellte einen Antrag und erlebte, dass die Polizistin der zuständigen Pass- und Meldestelle den Antrag vor ihren Augen wortlos in kleine Schnipsel zerriss. Für Eltern von „Republikflüchtlingen“ gab es eine solche Genehmigung nicht, und die Polizistin machte das als „progressive“ Hilfskraft des politischen Systems auf drastische Weise deutlich, wohl wissend, dass eine gerichtliche Nachprüfung ausgeschlossen war.

Der Mauerfall von 1989 war für diese Familie und für viele andere Deutsche in Ost und West eine große Freude. Keine Vorbeugungsgespräche, kein Rechtfertigungszwang, keine Anträge für gegenseitige Besuche und vor allem keine Todesopfer mehr an der innerdeutschen Grenze.