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25.01.19 / Brexit-Befürworter und -Gegner unter der Lupe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-19 vom 25. Januar 2019

Brexit-Befürworter und -Gegner unter der Lupe
Karlheinz Lau

Nach der Abstimmung der Briten über Verbleib oder Ausstieg aus der EU folgte bis zum heutigen Tag ein für den Normalverbraucher kaum noch überschaubares Bild über den Stand der Verhandlungen London-Brüssel. Das gilt auch für die Diskussionen und Kontroversen innerhalb der britischen Gesellschaft und der Parteien im Parlament. Es war abzusehen, dass sich nach dem Abstimmungsergebnis im Jahr 2016 die Fronten pro oder contra verhärten mussten. Dieses Ringen auf den einzelnen Ebenen wird sich fortsetzen, das Land bleibt gespalten. 

Das Buch „Die Flucht der Briten aus der Europäischen Utopie“ von Jochen Buchsteiner erschien bereits im September 2018, was bedeutet, dass natürlich neueste Entwicklungen nicht berücksichtigt werden konnten. Den Erkenntnisgewinn durch das Buch schmälert dies überhaupt nicht. 

Buchsteiner legt keine Chronologie der Ereignisse seit der Volksabstimmung vor, sondern er versucht, die Haltung der Briten zum Verlassen der EU aus den Erfahrungen ihrer Geschichte, aus der die speziell britische Mentalität sich entwickelte, zu erklären. Als ein Schlüsselereignis sieht er 1534 die Abspaltung des Königreichs vom Papsttum und die Übernahme der englischen Kirche durch Hein-

rich VIII., er nennt es den sogenannten ersten Brexit. 

Als weiteres Dokument sieht Buchsteiner die 1215 unterzeichnete Magna Charta, die der Willkür eines jeden Herrschers Grenzen setzt. Er spricht sogar von einer Linie: Spanische Armada 1588 (Seesieg über die spanische Flotte) über Napoleon bis Hitler – „aus britischer Sicht war es stets das Königreich gewesen, das Des­potie und Aggression auf dem Kontinent Europa erfolgreich bekämpft hat“. Dies begründe den Stolz auf den britischen Nationalstaat und dessen Geschichte, den nicht nur die Anhänger des Brexit empfänden. 

Hier verweist der Autor auf einen Unterschied: Es müsste eigentlich „Enxit“ („England Exit“) heißen, da Schotten und Nordiren überwiegend für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten. Nach Meinung des Autors haben die historischen Erfahrungen sowie die Insellage des Königreiches das Bild eines typischen Briten geprägt: stolz als Bewohner der Insel in Abgrenzung zum Kontinent, stolz als Land der ersten Industrialisierung im 18./19. Jahrhundert, selbstbewusst als Angehöriger des Commonwealth mit dem Gefühl, die führende Seemacht zumindest bis Mitte des 

20. Jahrhunderts gewesen zu sein. Alle diese Punkte führten zu einem „britischen“ Selbstbewusstsein, manchmal auch zu Arroganz und Überheblichkeit, wie bei Begegnungen mit Engländern häufig zu spüren sei.

Vermutlich trifft aber dieses Bild eher auf die Eliten und Entscheidungsträger zu, weniger auf den normalen Bürger. Die gesamte Darstellung verrät den scharfsinnigen Kenner und Beobachter des aktuellen Verhältnisses zwischen dem Brexit-Großbritannien und der EU. Buchsteiner stellt die Argumente für einen Austritt auch mit den Schwächen und kritischen Punkten der EU, wie sie nicht nur auf der Insel gesehen werden, gegen­über, er berücksichtigt aber auch die Positionen der „remainders“. Diese zeigen immerhin, dass viele Briten, vornehmlich die jüngeren Generationen, sich nicht wesentlich unterscheiden von ihren Altersgenossen auf dem Kontinent in ihrer Einstellung zu einem vereinten Europa.

Die entscheidende Frage lautet, wie es der Autor formuliert: „Lassen sich Wohlstand und Frieden in Europa wirklich nur über die Integration der europäischen Nationalstaaten erreichen, über eine Harmonisierung, die aus einer mächtigen bürokratischen Zentrale gesteuert wird?“ Der Autor deutet hier Tendenzen zum verstärkten Entstehen nationalstaatlicher Strömungen etwa in Osteuropa an, die sich auch aus Maßnahmen der Brüsseler Behörden gegen Polen oder Ungarn entwickeln.

Buchsteiner, heute als Journalist in London für die „FAZ“ tätig, behandelt das Thema aspektreich und überhaupt nicht oberflächlich. In diesem laufenden Prozess – Brexit oder nicht Brexit – analysiert er die einzelnen Positionen in Großbritannien sowie in Brüssel und Kontinentaleuropa, ohne das Endergebnis zu kennen. 

Seine Meinung zu den einzelnen Fragen braucht der Leser nicht zu teilen. Anregungen zur Prüfung der eigenen Position bietet jedoch das Buch zur Genüge. Es ist ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Situation. Der tatsächliche und gegenwärtige Entwicklungsstand der EU kann nicht als „Europäische Utopie“ charakterisiert werden.

Jochen Buchsteiner: „Die Flucht der Briten aus der Europäischen Utopie“, Rowohlt Verlag, Reinbek 2018, gebunden, 142 Seiten, 16 Euro