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08.02.19 / Außenansicht: Eine Emigrantin blickt kritisch auf das Russland unter Putin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-19 vom 08. Februar 2019

Außenansicht: Eine Emigrantin blickt kritisch auf das Russland unter Putin
Dirk Klose

Sie habe, schreibt die Autorin Masha Gessen im Vorwort ihres Buches über das postsowjetische Russland, berichten wollen von der Freiheit, die nicht ergriffen wurde, und von der Demokratie, die unter Wladimir Putin nicht erwünscht war. Ihr „faktografischer russischer Roman“ verbinde individuelle Tragödien mit den allgemeinen Ereignissen und Ideen in Russland seit der Ära Gorbatschow. 

Es ist ein ständiges Pendeln zwischen nüchterner Geschichtsschreibung und literarischer Biografie, was vom Leser zunächst einige Konzentration erfordert. 

Sieben Personen rückt die Autorin in den Mittelpunkt ihres Erzählens: Vier jüngere Wissenschaftler aus der Mitte der 1980er Jahre, die in den Jelzin-Jahren aufwuchsen und unter dem sich verhärtenden Putin-Regime immer häufiger mit dem Staat in Konflikt gerieten. Daneben zwei ältere Wissenschaftler, Soziologe der eine und Psychoanalytikerin die andere, an deren Beispiel die zunehmende Reglementierung ihres Fachs geschildert wird, schließlich mit dem nationalistischen Alexander Dugin der „Hofphilosoph“ Putins. 

Die Autorin hat nach eigener Aussage unzählige Stunden gerade mit den vier jungen, bewundernswert mutigen Protagonisten verbracht, um an deren Beispiel hautnah das immer stärker repressiv werdende Russland zu schildern. So erlebt der Leser noch einmal den Aufbruch der Gorbatschow-Ära, die bewegten Jahre unter Boris Jelzin (der in seinen besten Stunden wohl wirklich eine funktionierende Demokratie anstrebte), die dramatischen Putschversuche von 1991 und 1993, dann den Regierungsantritt Putins, unter dem Russland mehr und mehr ein nach innen und nach außen auftrumpfendes Imperium wurde. 

Die Repressionen im Innern sieht die Autorin in einer zunehmenden Intoleranz im Forschungsbereich, in der rigorosen Verfolgung und drakonischen Bestrafung Homosexueller und in einer überheblichen Bevorzugung alles Russischen gegenüber anderen Nationalitäten. Die außenpolitische Machtattitüde zeige sich eklatant in der Besetzung der Krim, in der Unterstützung separatistischer Bestrebungen in der Ostukraine, in einem aggressiven „eurasischen“ Denken und im Hass auf den Westen, insbesondere auf die USA.  

Gessen wurde 1967 als Kind einer aschkenasisch-jüdischen Familie in Moskau geboren. Diese emigrierte 1981 in die USA, wo Gessen Journalistin wurde. Ab 1994 arbeitete sie erneut in Mos-kau, das sie aber 2013 wegen zunehmender Repressionen wieder verließ. In Amerika hat sie sich in der Schwulen- und Lesbenbewegung engagiert, was wohl auch ihre Sensibilität für die wachsende Intoleranz in Russland erklärt. Einer ihrer vier jungen „Helden“, der schwule Dozent Ljoscha, ging inzwischen ebenfalls in die USA. Eine andere junge Frau, die Tochter des 2014 an der Kremlbrücke erschossenen Boris Nemzow, lebt heute in Bonn. 

Der das ganze Buch beherrschende, überaus kritische Duktus resultiert, so möchte man meinen, auch aus persönlichem Erleben. Gessen stellt dem Land eine düstere Prognose: In der Geschichte hätten schon ganze Zivilisationen aufgehört zu bestehen. Russland und die Russen, so schreibt sie „starben seit einem Jahrhundert – in den Kriegen, im Gulag und vor allem durch die Geringschätzung menschlichen Lebens im Alltag. Dieses Land wollte sich selbst töten.“ Muss man diese Ansicht in aller Konsequenz akzeptieren? 

Das Land hat sich selbst vom furchtbarsten Stalinismus wieder frei gemacht. Letztlich ist die Zukunft für jedes Land offen. Auf der bevorstehenden Leipziger Buchmesse wird Gessen den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhalten.

Masha Gessen: „Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, gebunden, 639 Seiten, 26 Euro