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15.03.19 / Gemieden wie Aussätzige / EU-Skeptiker gewinnen Wahlen in Estland – Andere Parteien schließen sie von Regierungsbeteiligung aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-19 vom 15. März 2019

Gemieden wie Aussätzige
EU-Skeptiker gewinnen Wahlen in Estland – Andere Parteien schließen sie von Regierungsbeteiligung aus
Bodo Bost

Estlands bürgerliche Reformpartei erobert sich bei den Parlamentswahlen die Regierungsmacht von der linksliberalen Zentrumspartei zurück. Wahlgewinner mit einer Verdopplung ihres Ergebnisses ist die EU-kritische Partei Ekre.

In der estnischen Parlamentswahl vom vorletzten Sonntag hat die seit zwei Jahren regierende linksliberale Zentrumspartei ihre Position erstmals an der Urne zu verteidigen versucht, dabei aber laut Angaben der Wahlkommission in Reval (Tallinn) nicht den gewünschten Erfolg erzielt. 

Aussagekräftige Teilauszählungen hatten schon am späten Abend auf einen unerwartet deutlichen Erfolg ihres wichtigsten Gegenspielers hingedeutet, der bürgerlichen Reformpartei. Praktisch alle Kommentatoren hatten schon, wie bereits bei den vorangegangenen Wahlen im Jahr 2015, ein Kopf-an-Kopf-Rennen dieser beiden größten parlamentarischen Formationen Estlands prognostiziert.

Im März 2015 hatte sich nach der Wahl eine Dreierkoalition aus Reformpartei (RE), Sozialdemokraten (SDE) und Pro-Patria- und Res-Publica-Union (IRL) unter Premierminister Taavi Rõivas (RE) gebildet, die jedoch im November 2016 wegen des Absprungs der kleineren Parteien zerbrach. 

An ihre Stelle trat damals eine Koalition aus Zentrumspartei (K), SDE und IRL unter dem neuen Regierungschef Jüri Ratas von der K-Partei. Die Freie Partei (EVA) und die Konservative Volkspartei (EKRE) blieben als Parlamentsneulinge in der Opposition. Dort fand sich dann Ende 2016 auch die seit 1999 in der Regierungsverantwortung stehende Reformpartei wieder. Die jetzige Wahl war deshalb vor allem auch ein Plebiszit gegen die politischen Leistungen von Ministerpräsident Ratas, dem Chef der Zentristen.

Die wirtschaftsliberale Reformpartei von Spitzenkandidatin Kaja Kallas, die wahrscheinlich die nächste Regierung stellen wird, kommt demnach auf 34 von 101 Sitzen. Dahinter folgt die linksgerichtete Zentrumspartei von Regierungschef Ratas (26 Mandate). Nach den Stimmenverlusten der konservativen Partei Isamaa (zwölf Sitze) und der Sozialdemokraten (zehn Sitze) hat die alte Regierung keine Mehrheit mehr. 

Eigentlicher Wahlgewinner wurde mit 19 Sitzen die nationalkonservative EKRE, die drittstärkste Kraft wurde und sich an Ratas’ Bündnispartnern, der Freien Partei und den Sozialdemokraten, die jeweils ihre Ergebnisse von 2015 fast halbierten, vorbeischieben konnte. In zwei ländlichen Wahlkreisen im Süden und Westen des Landes konnte die EKRE-Partei sogar die Stimmenmehrheit erreichen.

Estland ist weltweit das führende Land bei der elektronischen Stimmabgabe, dem E-Voting. Eine rekordverdächtige Zahl von 275000 Abstimmungsberechtigten (rund 30 Prozent) hatte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Bei den Resultaten aus der elektronischen Stimmabgabe führte die oppositionelle Reformpartei schon am Abend haushoch, während die Zentrumspartei zunächst sogar nur an vierter Stelle lag. E-Voting wird jedoch eher von jungen Leuten genutzt, und die bilden auch in Estland nicht die Mehrheit der Wahlberechtigten.

Der Urnengang war der „langweiligste“ seit Langem, hieß es. Es fehlte an großen Kontroversen. Ministerpräsident Ratas hatte es zwar verstanden, seine Partei aus einem eher misstrauisch beäugten Sammelbecken der russischsprachigen Minderheit zu einer modernen Formation des linksliberalen Mainstreams zu schmieden. Die Bürger durchschauten jedoch dieses Manöver als Augenwischerei, deshalb brachte die Neuaufstellung nicht den gewünschten Erfolg an der Urne.

Wahlgewinner EKRE hatte im Wahlkampf einen kritischen Ton gegenüber der Europäischen Union angeschlagen. Estland ist das Beitrittsland Mittel- und Osteuropas, das am schnellsten den Anschluss an Westeuropa geschafft hat. Arbeitslosigkeit gibt es faktisch keine mehr, und das Land hat den Sprung in die Digitalisierung noch vor den westeuropäischen Ländern geschafft. Nur die Löhne hinken noch etwas dem westeuropäischen Niveau hinterher, deshalb ist die Abwanderung immer noch beachtlich. 

Anders als bei vergangenen Wahlen dominierte diesmal nicht mehr das Thema russische Minderheit. EKRE hatte im Wahlkampf vor allem gegen die Aufnahme von weiteren Asylsuchern geworben. Estland hatte im Rahmen der Umverteilung der EU nach einer Quotenregelung 2016 einige Hundert Asylsucher aus dem Nahen Osten aufgenommen. Die Hälfte dieser Asylsucher ist jedoch bereits wieder aus Estland verschwunden, weshalb sich im Volk eine Stimmung gegen Asylsucher eingestellt hat. 

In einer Mitsprache bei der Regierungsbildung dürfte sich das gute Ergebnis von EKRE jedoch kaum niederschlagen, denn bei den übrigen Formationen ist die Lust auf eine Zusammenarbeit mit den Nationalkonservativen gering. Die Reformpartei schloss eine Kooperation sogar rundweg aus. Der politische Mainstream ist also auch in das einst so wankelmütige Wahlvolk Estlands eingekehrt.