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15.03.19 / Ein Nachtgespenst ging um / Vor 90 Jahren sorgte eine Einbruchserie in Berlin für Aufsehen – Die Vorliebe für weibliche Opfer fand lyrischen Niederschlag

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-19 vom 15. März 2019

Ein Nachtgespenst ging um
Vor 90 Jahren sorgte eine Einbruchserie in Berlin für Aufsehen – Die Vorliebe für weibliche Opfer fand lyrischen Niederschlag
Bettina Müller

Selbst Kurt Tucholsky war von dem Einbrecher fasziniert, der die Berliner vor 90 Jahren nachts heimsuchte. „Erschrecken Sie nicht! Erschrecken Sie doch! Ich bin schon lange weg, wenn du im Halbschlaf pennst. Ich bin das Nachtgespenst!“, dichtete er.

Das Nachtgespenst schlich sich 1929 in Berlin in fremde Häuser ein, blendete aus dem Schlaf Geschreckte mit einer Taschenlampe, zog ihnen die Bettdecke weg, bestahl sie. Erschrecken Sie nicht! Als „Theobald Tiger“ hat Kurt Tucholsky das populäre Motiv des Nachtgespensts im Januar 1930 in seinem gleichnamigen Gedicht in der „Weltbühne“ verewigt. Kurt Gerron besang es spitzbübisch in dem von Rudolf Nelson vertonten Chanson, das Nachtgespenst ging in Kunst, Kultur und Literatur ein. 

Manch einsame Dame wünschte sich vielleicht sogar insgeheim dessen Besuch: „Zärtlich umfasst er die Schlummernde und drückt einen Kuss auf ihre Lippen, dann verschwindet er lautlos, wie er gekommen“, phantasierte eine der insgeheim begeisterten Zeitschriften, die österreichische „Illustrierte Wochenpost“. 

Das Nachtgespenst kam nie un­vorbereitet, schnitt in den ausgespähten Zielobjekten die Telefonleitungen durch und schaltete die Sicherungen aus. Der mysteriöse Fall wurde von der Presse weidlich ausgeschlachtet, es kam zu einem für die Weimarer Zeit nicht ungewöhnlichem Phänomen. In schlechten Zeiten solidarisierte man sich nun im Geiste mit dem Geist und verharmloste diesen: „Auf alle Fälle hat das gute Nachtgespenst noch nie jemand etwas Ernstliches zuleide getan“, schrieb eine Zeitung. Der Mann, der 1929 als Nachtgespenst unterwegs war, blieb nicht der Einzige, dem man den Titel verlieh.

Im März 1929 verhaftete die Berliner Polizei einen Dachdecker, der als angebliches Nachtgespenst ein riesiges Beutelager in seiner Wohnung angesammelt hatte. Ein anderes Nachtgespenst stieg in Wohnungen ein, ohne je etwas mitgehen zu lassen. Doch das „gute Nachtgespenst“ unterschied sich von allen anderen An­wärtern auf das kriminelle Siegertreppchen, weil es ein be­sonderes Interesse für weibliche Bestohlene zeigte. 

Die Polizei wurde langsam nervös – die Berliner waren es schon längst – und wollten Erfolgserlebnisse. In ihrer Hektik verhafteten Beamte in Neukölln einen jungen Mann, der sich zwar nicht als das gesuchte Nachtgespenst entpuppte, aber seit Kurzem dessen Vorgehensweise imitierte. Allgemeine Verwirrung machte sich breit: Wer ist denn nun das echte, das einzig wahre Nachtgespenst, das nämlich die weiblichen Schlafenden auch schon mal küsst und so zur romantischen Legende wird? Wachte das Opfer in dem Moment auf und fing an zu schreien, zück­te das Nachtgespenst dann aber wenig zärtlich einen ganz realen Revolver. 

Verzweifelt setzte der Polizeipräsident eine besondere Belohnung aus. Erst am 25. März 1930 gelang der Polizei die Festnahme des illustren Einbrechers. In einer Wohnung am Savignyplatz traf das Nachtgespenst auf einen mu­tigen Bewohner, der sich zusammen mit seinem Sohn beherzt an die filmreife Verfolgung machte. Das Nachtgespenst floh in das Ab­teil eines Nordring-Zuges, seine beiden Verfolger konnten gerade noch auf den Waggon aufspringen. Am Bahnhof Wedding brach es sich dann beim Sprung aus dem ausfahrenden Zug beide Beine und wurde im Untersuchungsgefängnis Moabit Zellennachbar der legendären Sklarek-Brüder, die Betrügereien im großen Stil begangen hatten.

Schließlich knickte der Mann, der angeblich Josef Kostrow hieß, ein, gestand nicht nur un­zählige Einbrüche, sondern auch, dass es ihm Spaß gemacht habe, schlafenden Frauen die Bettdecke wegzuziehen, sie zu küssen und zu streicheln, sodass er schließlich nicht mehr von den Berührungen lassen konnte. 

Kriminalkommissar Lüdtke begegnete dem Mann dennoch wohlwollend, denn der Mann sei ja eigentlich der „Typus des sympathischen Verbrechers“. Der aus Schlesien stammende uneheliche Sohn eines Fabrikanten, der mit zwölf Jahren in eine Fürsorgeeinrichtung kam, hatte zunächst eine Buchdruckerlehre begonnen und dann das Weite gesucht. Er beging erste Diebstähle und landete schließlich in Berlin, wo er als Boxer auf Jahrmärkten und als Rausschmeißer in Kaschemmen gearbeitet hatte.

Am 20. Januar 1931 musste sich das Nachtgespenst vor dem Charlottenburger Schöffengericht „materialisieren“ und wurde wegen unzähliger schwerer Diebstähle sowie drei Fällen von Notzucht angeklagt. Die Staatsanwaltschaft beantragte eine Strafe von acht Jahren. 

Das Interesse an dem neuen „Sensationsprozess“ war so groß, dass der große Moabiter Schwurgerichtssaal zum Bersten gefüllt war. „Josef Kostrow“ entpuppte sich als falscher Name, zunächst geisterte der 40-Jährige als „Josef Janoschka“ durch die Presse. Der bereits vorbestrafte Janoschka wurde zu dreieinhalb Jahren Ge­fängnis verurteilt, von der Anklage der Vergewaltigung jedoch mangels Beweisen freigesprochen. Doch dann wendete sich das Blatt. Johann Janoschka, so sein richtiger Name, musste er­neut vor Gericht. In der Berufungsverhandlung wurde die Strafe am 8. Juli 1931 von der Dritten Kammer des Berliner Landgerichts auf neun Jahre Haft und fünf Jahre Ehrverlust sowie Sicherheitsüberwachung aufgestockt, die Sittlichkeitsverbrechen, unter anderem die angebliche Vergewaltigung einer Postbeamtin, konnten ihm nach wie vor nicht nachgewiesen werden.

Im Sommer 1935 wurde Janoschka entlassen und fand eine Arbeitsstelle bei einem Bauunternehmer. Im Rahmen eines neuen „Gesetzes über die planmäßige Überwachung von Berufsverbrechern“ hatte er eine Meldepflicht, der er eines Tages nicht mehr nachkam. Dann wurde er rück­fällig: Erschrecken Sie doch! 

Anfang März 1936 wurde der Verbrecher wieder festgenommen und nach fast 150 Diebstählen zu neun Jahren Zuchthaus, fünf Jahren Ehrverlust und Sicherheitsüberwachung verurteilt. Spätestens seit 1933 war es in vielen Zeitungen mit Sympathiegefärbten Berichten über angebliche „Gentleman-Verbrecher“ vorbei. Auch Janoschka verschwand nun vom Radar, denkbar ist, dass ihn die Nationalsozialisten „liquidiert“ haben und sein Lebensweg im KZ endete.