29.03.2024

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15.03.19 / Versailles aus der Sicht zweier Historiker

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-19 vom 15. März 2019

Versailles aus der Sicht zweier Historiker
Dirk Klose

Fragte man in den 1930er Jahren deutsche Emigranten, die vor dem NS-Regime geflohen waren und nun in aller Welt lebten, wie es zu der brutalen Herrschaft Hitlers habe kommen können, dann sagten sie meist nur ein Wort: Versailles! Gemeint war der am 28. Juni 1919 in Versailles abgeschlossene Friedensvertrag zwischen den westlichen Siegern und dem besiegten Deutschland, der den Ersten Weltkrieg beendete. Aber es war kein Vertrag, der Frieden schuf, sondern einer der den Keim zu einem neuen Krieg in sich trug. Der Oberbefehlshaber der siegreichen Streitkräfte, der französische Marschall Ferdinand Foch, sagte schon in Versailles: „Das ist kein Friede. Das ist ein Waffenstillstand für 20 Jahre.“

Mit Blick auf das baldige 100-Jahrgedenken sind mehrere Bücher zum Thema erschienen. Zwei Titel, so hat es den Eindruck, ragen dabei heraus, einmal „Die große Illusion“ des Marburger Historikers Eckart Conze, zum anderen „Der überforderte Friede“ seines in Freiburg lehrenden Kollegen Jörn Leonhard. Beide Bücher sind außerordentliche wissenschaftliche Leistungen. In der Überfülle der Fakten, der wissenschaftlichen Analyse und Wertung, in der Beherrschung der Stoffmassen, in stilistischer Brillianz und mit einer heute als selbstverständlich erachteten globalen Betrachtungsweise zeigen sich beide Autoren als würdige Vertreter großer Geschichtswissenschaft. 

Conze kommt etwas leserfreundlicher mit 500 Seiten aus, erzählt nüchterner und endet mit Fragen zur unmittelbaren Gegenwart. Leonhard hingegen verlangt vom Leser Aufmerksamkeit für knapp 1300 Seiten Text, die dann aber in der Tat eindringlich zeigen, wie sehr der Erste Weltkrieg nicht nur ein europäischer Krieg war, sondern (vielleicht bis auf Lateinamerika) wirklich die ganze Welt berührte, und wie sehr Versailles mit unerfüllten Hoffnungen und nicht erfüllten Versprechen seitens der Alliierten einen unaufhaltbaren Erosionsprozess der bis dahin festen Weltordnung vor allem in Asien und Nahost in Gang setzte. Dem auch emotionalen Höhepunkt, der Konfrontation der Sieger und Besiegten in Versailles, einmal bei der Übergabe der Friedensbedingungen an die Deutschen, dann bei der Vertragsunterzeichnung, zittern beide Autoren gleichermaßen nach und geben das dramatische Geschehen fast minutiös wieder.

Der vierjährige Weltkrieg hatte an Opferzahlen, tödlicher Technik und gnadenloser Härte alle bisherigen Kriege in den Schatten gestellt und zu einer beispiellosen Emotionalisierung geführt. Anders als 100 Jahre zuvor beim Wiener Kongress verhandelten Sieger und Besiegte nicht als gleichberechtigte Partner, sondern in Versailles diktierten die Siegermächte die Bedingungen, denen sich Deutschland und die anderen Besiegten Österreich, Ungarn und Bulgarien fügen mussten. Nur das Osmanische Reich widersetzte sich dem Diktat und erreichte als Türkei unter Atatürk nach blutigen Kämpfen mit griechischen Invasionstruppen einen moderaten Friedensschluss  (gerade dieses Kapitel ist bei Leonhard besonders ausführlich; schlagartig werden dem Leser die andauernden Spannungen zwischen Griechen und Türken deutlich).  

Fast unisono galt der Versailler Vertrag in Deutschland als „Schanddiktat“, nicht nur wegen der kaum aufzubringenden Reparationen, sondern vor allem wegen des berüchtigten Vertrags-paragrafen 231, der Deutschland als allein Schuldigen am Krieg erklärte. Es war wohl diese moralische Verurteilung, die ohnmächtige Wut und Nationalismus ständig anstachelte und das Land nie richtig zur Ruhe kommen ließ. Anti-Versailles-Stimmung und  antidemokratischer Nationalismus besiegelten 1933 das Ende der Weimarer Republik.

Beide Autoren zeigen anschaulich, mit welch unterschiedlichen Vorstellungen von Frieden und Nachkriegszeit die großen Mächte in die Verhandlungen gingen. Die USA unter Präsident Wilson setzten auf eine neue Welt des Friedens, symbolisiert im Völkerbund. Großbritannien sah mit der Ausschaltung seines wirtschaftlichen und militärischen Rivalen Deutschland sein Hauptkriegsziel erreicht. Frankreich verlangte am verbissensten drakonische Bestrafung und isolierte sich dabei von seinen Verbündeten. Letztlich hielt sie aber die Furcht vor einem erstarkenden Deutschland zusammen. Gleichwohl, Wilson unterzeichnete zwar, aber der Vertrag wurde im amerikanischen Senat verworfen. Die USA schlossen daraufhin mit Deutschland 1921 einen separaten Friedensvertrag. 

Große Geschichtsschreibung. Legt man die Bücher nach der Lektüre aufwühlender Ereignisse (und wohl auch wegen des Umfangs) ermattet zur Seite, gesellt sich zu allem Erschrecken doch auch dieser Gedanke: Einen solchen Krieg mit einem solch desaströsen Ende wird es zumindest in Europa nicht mehr geben. Wenigstens in diesem Punkt haben die Völker aus ihrer Vergangenheit gelernt. Und das ist ja nicht wenig.

Eckart Conze: „Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“, Siedler Verlag, München 2018, gebunden, 560 Seiten, 30 Euro

Jörn Leonhard: „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“, C.H. Beck Verlag, München 2018, gebunden, 1532 Seiten, 39,95 Euro