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22.03.19 / Geister beschwören die Geschichte / Ein Nationalkomponist wurde in das entwurzelte Schlesien von 1945 verpflanzt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-19 vom 22. März 2019

Geister beschwören die Geschichte
Ein Nationalkomponist wurde in das entwurzelte Schlesien von 1945 verpflanzt
Chris W. Wagner

Die polnische Nationalgeschichte lebt aus den Mythen der Weiten Sarmatiens, des alten Großreiches Polen-Litauen, während im Grunde einzig die alte Hansestadt Danzig als Polens Tor zur Welt aus den einst deutsch besiedelten Gebieten das Zeug hat in diese Phalanx einzudringen. Jüngere polnische Künstler unternehmen nach und nach den Versuch, die seit 1945 polnischen Gebiete im Westen und Norden in die Nationalgeschichte zu integrieren und somit auch deren Bewohnern Anknüpfungspunkte zur polnischen Geschichte zu liefern. Eine Inszenierung in Breslau steht für diese Entwicklung Pate.

Anfang März hatte Stanislaw Moniuszkos Kantate „Gespenster“ (Widma) in Breslau Premiere. Polen feiert 2019 den 200. Geburtstag des „Vaters der polnischen Nationaloper“, wie Moniuszko (1819–1872) gerne genannt wird , und viele Bühnen führen seine Stücke auf. Regisseur und Bühnenbildner Jaroslaw Fret wählte für Breslau eine etwas vergessene Kantate des aus dem damals polnischen Ubiel bei Minsk stammenden Komponisten. 

Moniuszko vertonte in seinen „Gespenstern“ den zweiten Teil von Adam Mickiewicz‘ romantischem Drama „Die Totenfeier“ (Dziady).

Im ostpolnischen, ukrainischen und weißrussischen Kulturkreis wurde zwei Mal im Jahr der Verstorbenen gedacht: zum Frühjahr, Anfang Mai und im Herbst zu Allerheiligen am 1. November. Zum Brauch gehörte das Anrufen der Geister der Verstorbenen, um sich ihre Gunst zu erbitten. Die Geister der Verstorbenen galten als Beschützer der Fruchtbarkeit und guter Ernte. Der Brauch verlangte, dass die Geister in der Nacht vom 31. Oktober auf den 

1. November auf den Friedhöfen angerufenen und dort besonders reich bewirtet wurden – oft mit Speis und Trank, die der Verblichene zu Lebzeiten besonders mochte. Dieses Volksritual hat Polens Nationaldichter der Romantik, Adam Mickiewicz (1798–1855), zum Motiv des zweiten Teils seines bekanntesten Dramas „Totenfeier“ (1823) gemacht. 

Während bei Adam Mickiewicz die Seelen der Verstorbenen in einer verlassenen Kapelle auf einem Friedhof gerufen werden, verortete Jaroslaw Fret seine Inszenierung in die Innenstadt von Breslau im November 1945. Sein Friedhof sind die Ruinen der zerstörten Stadt, aus der die Deutschen geflohen waren oder gerade vertrieben werden und in die Polen aus den Ostgebieten strömten. Fret zeigt, wie das erste Ritual des Geisterrufens auf dem fremden Friedhof ablaufen konnte. „Diese Ruinen und Straßen in meiner Inszenierung zeigen Breslau, aber die Stadt ist hier universal gedacht. Sie erzählt eine Geschichte, die das Lokale überschreitet“, sagte Fret in einer Pressekonferenz nach der Premiere. „Dies, was die Identität der heutigen Breslauer ausmacht, ist nicht nur der Wiederaufbau der Stadt, sondern auch die Tatsache, dass wir hier Friedhöfe zu unseren gemacht haben. Ich kehre hier zu den Wurzeln der Pioniere zurück“, so Fret.

Jaroslaw Fret (Jahrgang 1971) ist Polonist, Schauspieler, Bühnenbildner, Theaterregisseur und Direktor des Grotowski-Institutes in Breslau. Er war Vorsitzender des Theater-Kuratorenrates während der Dauer der Kulturhauptstadt Europa und leitet das Grotowski-Institut in Breslau.

Breslau will den 200. Geburtstag von Stanislaw Moniuszko während des langen „Maiwochenendes“ (der 1. Mai fällt auf einen Mittwoch und der 3. Mai, ein Freitag, ist zudem Nationalfeiertag in Polen) auf besondere Weise begehen. Geplant ist unter anderem die Vorführung des Vorkriegsstummfilms „Halka“ mit Livemusik aus der bekanntesten gleichnamigen Oper Moniuszkos. Diese gilt als die polnische Nationaloper schlechthin.