26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
29.03.19 / Alles andere als überflüssig / Ein Spiegel des medizinischen Fortschritts seit dem Mittelalter: Die Geschichte der Blinddarmoperation

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13-19 vom 29. März 2019

Alles andere als überflüssig
Ein Spiegel des medizinischen Fortschritts seit dem Mittelalter: Die Geschichte der Blinddarmoperation
Dagmar Jestrzemski

Über Jahrhunderte galt der Blinddarm als nutzloser Wurmfortsatz, später als bloßes Überbleibsel der Evolution. Viele Menschen kostete er das Leben. Dass er auch nützlich sein kann, wissen wir erst seit Kurzem.

Vor gut fünf Jahren, am 25. Dezember 2013, lief der Film „Der Medicus“ des Regisseurs Philipp Stölzl in deutschen Kinos an. Das Mittelalter-Epos nach der Vorlage des gleichnamigen Weltbestsellers von Noah Gordon aus dem Jahr 1986 wurde national wie international ein großer Erfolg. Tom Payne spielte den jungen Engländer Rob Cole, Ben Kingsley den in Europa unter dem latinisierten Namen Avicenna bekannten persischen Arzt Ibn Sina (980–1037). Die fiktive Handlung ist mit historischen Ereignissen in Persien unterlegt. Den Hintergrund bildet die Heilkunde jener Zeit, speziell fokussiert auf die Blinddarmentzündung.  

„Seitenkrankheit“ lautet im Film die einschlägige Bezeichnung für die Entzündung des Wurmfortsatzes am Ende des Blinddarms. Den Ärzten im Mittelalter war die Ursache der oft plötzlich auftretenden Erkrankung unbekannt, die mit heftigen Schmerzen im rechten Unterbauch einhergeht und ohne operativen Eingriff meist tödlich endet. Aufgrund religiöser Vorschriften war es verboten, den Körper von Verstorbenen zu öffnen, um nach der Todesursache zu forschen. Bedeutende Fortschritte in der Anatomie gab es im christlichen Kulturkreis erst seit Beginn des 16. Jahrhunderts.

Die Geschichte beginnt im England des 11. Jahrhunderts. Der neunjährige Rob Cole muss hilflos miterleben, wie seine Mutter unter furchtbaren Qualen an der Seitenkrankheit stirbt. In einer Vision hatte er ihren Tod vorhergesehen, dabei aber gespürt, dass sie womöglich zu retten gewesen wäre. Die traumatische Erfahrung wirkt in dem Protagonisten wie ein innerer Kompass nach. Als Vollwaise schließt sich Rob in London einem fahrenden Bader an, bei dem er Grundkenntnisse in der Chirurgie erwirbt. Als er von den Heilkünsten des berühmten persischen Arztes und Universalgelehrten Ibn Sina erfährt, beschließt er, nach Isfahan zu reisen, um sich in dessen Schule für angehende Mediziner ausbilden zu lassen.
Isfahan war damals das medizinische Zentrum im persisch-arabischen Kulturkreis.

Unterwegs im ägyptischen Kalifat, gibt sich Rob als englischer Jude aus, weil Christen dort nicht mehr toleriert wurden. In Isfahan wird er in der Schule Ibn Sinas zunächst abgewiesen, dann aber aufgrund einer Kopfverletzung im Krankenhaus des großen Medicus als Patient aufgenommen. Dieser behandelt ihn persönlich und findet Gefallen an dem talentierten Ausländer von der fernen Insel Albion.

Rob wird Meisterschüler des Ibn Sina, den man später in Orient und Okzident „Arzt aller Ärzte“ nannte. In den christlichen Ländern wurde er zum Repräsentanten eines toleranten Islam stilisiert. Vor ihm braucht der Engländer seine wahre Identität nicht zu verschleiern.    
Rob ist wie besessen von dem Bestreben, die menschliche Anatomie genauer zu studieren. Seinem Drängen, einen menschlichen Leichnam zu obduzieren, gibt Ibn Sina jedoch nicht nach, da eine Übertretung des Sezierverbotes lebensgefährlich für beide werden könnte. Von einem an der Seitenkrankheit dahinsiechenden Zoroastrier erfährt Rob, dass der Körper eines Verstorbenen nach den Gesetzen seiner Religion indes nicht intakt bleiben müsse. Nach dem Tod des Mannes führt Rob an dem Leichnam eine Obduktion durch und entdeckt die Ursache der Seitenkrankheit: eine Bauchfellentzündung aufgrund eines Blinddarmdurchbruchs.

Doch er wird verraten und zusammen mit Ibn Sina vom Gericht der Mullahs zum Tode verurteilt. Es kommt, wie es kommen muss: Der launische, opiumsüchtige Schah erkrankt an der Seitenkrankheit. Rob gelingt es, bei ihm eine Blinddarmoperation unter Betäubung erfolgreich durchzuführen. Die Seitenkrankheit ist besiegt, die Filmhelden sind vorerst gerettet. Unterdessen eskaliert die politische Lage in Isfahan aufgrund einer Verschwörung der inneren und äußeren Feinde des Schahs.
      
Noch jahrhundertelang sollte das Obduktionsverbot bestehen bleiben. Bei Verdacht auf die Seitenkrankheit verordneten die Ärzte Rizinusöl oder nahmen einen Aderlass vor. Wenn der Kranke genas, führte man dies auf die Therapie zurück. Seit dem            14. Jahrhundert fanden an den Universitäten von Venedig und Bologna vereinzelt Autopsien an Hingerichteten statt. Im 16. Jahrhundert wurde die Blinddarmentzündung bei Leichenöffnungen erkannt und beschrieben. Bekanntlich führte Leonardo da Vinci zwecks anatomischer Studien heimlich Sektionen an den Körpern Hingerichteter durch. Um 1500 hat er als Erster die Anatomie des Darms zeichnerisch genau darstellt. Gut zu erkennen ist der Blinddarm.

Die erste dokumentierte operative Entfernung eines entzündeten Blinddarms fand jedoch erst am 6. Dezember 1735 in London statt. In das St. George’s Hospital war der elfjährige Hanvil Anderson mit Verdacht auf einen vereiterten Leistenbruch eingeliefert worden. Claudius Amyand, der Hofchirurg König Georgs II., ließ dem Jungen Opium einflößen und wagte die Öffnung der Bauchdecke. Statt eines Leistenbruchs entdeckte er einen entzündeten, durchlöcherten Blinddarm, darin eine verschluckte Stecknadel. Sein Patient erlitt trotz der Betäubung Höllenqualen, überlebte aber die Tortur und konnte einen Monat später gesund entlassen werden. 1884 führte der Direktor der Chirurgischen Klinik am Kantonsspital in Zürich, Rudolf Ulrich Krönlein (1847–1910), bei einem jungen Mann mit typischen Symptomen der Blinddarmentzündung eine Operation durch.

Obwohl der Eingriff nach den besten hygienischen Standards der Zeit vorgenommen wurde, verstarb der Patient zwei Tage später. Dennoch gilt der Eingriff als Meilenstein in der Geschichte.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde eine Blinddarmentzündung nach wie vor zunächst meist konservativ behandelt. Oft war es dann zu spät für den möglicherweise rettenden chirurgischen Eingriff. Ein prominenter Fall ist der englische König Eduard VII, der kurz vor seiner Thronbesteigung 1901 erkrankte. Nach erfolgloser medikamentöser Behandlung überlebte er die Operation nur knapp. 1961 operierte sich der russische Chirurg Leonid Rogosow während eines Aufenthalts in einer sowjetischen Ant­arktisstation unter örtlicher Betäubung selbst.

Zwar ist der Wurmfortsatz oder Appendix nicht überlebenswichtig, dennoch wird eine vorbeugende Entfernung von ärztlicher Seite nach wie vor überwiegend abgelehnt. Seinen Ruf als ein im Laufe der Evolution funktionslos gewordenes Organ oder „Abfallorgan“ verdankt der Blinddarm dem Urheber der Evolutionstheorie, Charles Darwin.
Durch Studien ist inzwischen aber belegt, dass der Blinddarm durchaus eine wichtige Aufgabe bei der Immunabwehr hat. Nach seiner Entfernung fehlt ein wichtiger Vorratsspeicher an nützlichen Verdauungsbakterien. Ob eine Infektion bei Betroffenen ohne Blinddarm komplizierter verläuft, ist bisher ungeklärt. Vermutet wird, dass der Verlust dieser Zusatzfunktion von einem intakten Immunsystem kompensiert werden kann.