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05.04.19 / Palmnicken-USA und zurück / Ein Dokumentarfilm mit Gunter Nitsch gegen das Vergessen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-19 vom 05. April 2019

Palmnicken-USA und zurück
Ein Dokumentarfilm mit Gunter Nitsch gegen das Vergessen
Gunter Nitsch

Woyna kaputt! Chitler kaputt!“ (Der Krieg ist vorbei, Hitler ist vorbei) schrien die betrunkenen russischen Soldaten am Strand von Palmnicken, als sie bei wilden Siegestänzen mit ihren Stiefeln Sand hochtraten. Ich war fassungslos, als einer der Soldaten meinen zweijährigen Bruder aufhob und ihn freudig mehrmals in die Luft warf und ihn wieder auffing. Die Russen feierten das Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war der 9. Mai 1945, und ich war gerade sieben Jahre alt. Es dauerte noch einige Jahre, bis ich erfuhr, dass der nördliche Teil Ostpreußens, die östlichste Provinz Deutschlands, gerade ein fester Bestandteil der Sowjetunion geworden war, und dass seine Hauptstadt Königsberg, in der ich geboren wurde, in Kaliningrad umbenannt werden würde.

Nur wenige Monate früher, Ende Januar 1945, hatte am Strand von Palmnicken ein grausiges Verbrechen stattgefunden. In den letzten Kriegstagen hatten SS-Truppen verzweifelt versucht, die Existenz der Konzentrationslager zu verheimlichen, indem sie Tausende von jüdischen Frauen bei eisiger Kälte nach Palmnicken marschieren ließen. Die Frauen, die den Marsch überlebt hatten, wurden auf das Eis der Ostsee gejagt und mit Maschinengewehren niedergemäht. Hinterher wurden die vielen Leichen einfach flüchtig am Ostseestrand im Sand verbuddelt.

Am 21. Mai 1945, am Pfingstmontag, wurde mein Großvater zusammen mit anderen älteren deutschen Männern und deutschen Jungen von Offizieren der Roten Armee aufgefordert, sich am Strand zu melden, wo sie mit nichts als ihren bloßen Händen die verwesten Leichen ausgraben mussten, die dann auf den neuangelegten jüdischen Friedhöfen beerdigt wurden. Mein Großvater war von dieser wochenlangen Tätigkeit moralisch und physisch total zerstört. „Wie konnte so etwas passiert sein?“, fragte er weiter. „All diese Frauen…“. Vollkommen traumatisiert, in sich gekehrt und schweigsam geworden, verlor er seinen Lebenswillen und starb weniger als ein Jahr später.

Ich war zwar nur sieben Jahre alt, aber als meiner Mutter befohlen wurde, sich um einen der neuen jüdischen Friedhöfe zu kümmern, nahm sie mich täglich zum Schutz mit. Tag für Tag half ich ihr, Unkraut zu jäten und sah ihr zu, wie sie die fünfzackigen Sowjetsterne, die am Kopfende aller Gräber standen, mit roter Farbe anstrich.

Mittlerweile waren genau fünfzig Jahre vergangen, und ich hatte angefangen, mein Buch „Eine lange Flucht aus Ostpreußen“ über meine Kindheit unter der russischen Besatzung in Ostpreußen zu schreiben. In der Zwischenzeit hatte ich viele Skeptiker getroffen, die anzweifelten, was ich ihnen über Palmnicken erzählte. „Sie waren nur ein kleines Kind damals. Wie können Sie sich wirklich an all das erinnern?“ Und so 

reiste ich im Sommer 1998 von New York City nach Königsberg, um festzustellen, ob ich zum Beispiel den jüdischen Friedhof außerhalb von Palmnicken finden würde, auf dem meine Mutter und ich viele Wochen vor fünfzig Jahren gearbeitet hatten. 

Zu meinem großen Erstaunen hatten die russischen Behörden in Königsberg noch nie etwas von den jüdischen Friedhöfen gehört. Es wurde noch viel schlimmer, denn sie bezweifelten auch meine Geschichte über das Massaker von Palmnicken. „Wenn so etwas von diesem Ausmaß nur weniger als 50 Kilometer von hier entfernt passiert wäre, würden wir es sicherlich wissen!“, beharrte der Herr der Stadtverwaltung. Auf meinen Hinweis, dass ich schriftliche Beweise und Informationen von Yad Vashem in Jerusalem zu Hause hätte, kam der etwas verächtliche Satz, „Aber das sind ja jüdische Quellen.“

Auf die Frage des Beamten, ob ich bereit wäre, von zwei russischen Reportern interviewt zu werden, sagte ich sofort zu. Eine Stunde später unterhielt ich mich mehrere Stunden mit den Königsberger Reportern Alexei Chabounine und Alexander Aderichin in meinem Hotel. Zurück zu Hause in New York City, schickte ich den beiden Herren handfestes Beweismaterial und Hinweise auf weitere Dokumente. All das führte zu mehreren Artikeln über das Massaker von Palmnicken in der russischen Presse und Wochen später zu einem telefonischen Interview mit dem New York Times-Reporter Michael Wines aus Moskau. Am 31. Januar 2000 erschien auf der New York Times-Titelseite der Artikel „Yantarny Journal: Russen erwachen zu einem vergessenen Verbrechen der SS.“ Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert wurde den Opfern des Massakers in einer Zeremonie am Strand ein Denkmal gesetzt.

Aber damit endet die Geschichte nicht. Vor ein paar Monaten erschien auf meiner Facebook-Seite eine private Nachricht des Reporters Alexandr Aderichin. Könnte er meine Kontaktinformationen an ein Dokumentarfilmunternehmen in Moskau weitergeben? Nicht lange danach hörte ich von Nastya Velskaya, der Kreativ-Produzentin der Firma AB-TV. „Wären Sie bereit, im Januar 2019 ...nach Kaliningrad und Yantarny zu reisen, um an der Verfilmung eines Dokumentarfilms über das Massaker von Palmnicken teilzunehmen?“ fragte sie in einer E-Mail. Ich überlegte nicht lange und sagte zu.

Eigentlich hätte es ein direkter Flug von Chicago nach Warschau mit der polnischen LOT Airline und ein kurzer Sprung nach Königsberg sein sollen. Das hätte mir Zeit gegeben, mich von meinem Jetlag zu erholen, bevor das Programm „International Holocaust Remembrance Day“ am Sonntagmorgen, dem 27. Januar stattfand. Nach einem fast zweitägigen Marathon mit abgesagten Flügen, ungeplanten Übernachtungen und mehreren Flügen war die Landung spät abends in Königsberg vollbracht. Dort warteten der Dokumentarfilmer Andrey Prokuryakov und sein gesamtes Filmteam darauf, mich kennenzulernen und abzuholen. Er und sein Team wären überzeugt gewesen, dass ich aufgrund meines Alters in Warschau aufgegeben hätte und nach Chicago zurückgekehrt wäre. Aber offensichtlich hatten sie nicht mit meiner ostpreußischen Sturheit und mit meinem Willen zur Teilnahme gerechnet. „Es gab keinen Grund zur Sorge“, versicherte ich ihnen. „Schließlich bin ich nur 81 Jahre alt.“

Gleich am nächsten Morgen versammelten sich mehrere Hundert Menschen am Strand in Yantarny, von denen viele zwölf Kilometer zu Fuß zurück-gelegt hatten. Unter ihnen war Rabbi David Shvedik, Leiter der jüdischen Gemeinde in Königsberg, der Israeli Simcha Efraim Koplowicz, dessen Mutter eine der wenigen Überlebenden des Massakers war, und örtliche Amtspersonen sowie Politiker aus Deutschland, Litauen und Polen. Nach meinem Dafürhalten war auch der Geist meines Großvaters anwesend.

Der Vorplatz zum Denkmal war vereist und ziemlich glatt und als ich mich nach einem weniger gefährlichen Stehplatz umschaute, eilte ein bärtiger Herr auf mich zu und rief „Gunter Nitsch!“ und umarmte mich herzlich. „Ich bin Rabbi David Shvedik. Wir sind Facebook-Freunde!“ Mehrere ältere Menschen mit Tränen in den Augen kamen auf mich zu und sprachen mit mir auf Russisch. Leider war Alexei Chabounine, der immer alles übersetzte, im Moment nicht da. Ich konnte mir nur vorstellen, dass man diese Leute auf den Amerikaner aufmerksam gemacht hatte, der dabei geholfen hatte, die Welt auf das Massaker von Palmnicken hinzuweisen.

An diesem kalten Tag des Gedenkens wurden über zwanzig kurze Reden in Russisch, Deutsch und Englisch gehalten, gefolgt von der Rezitation des Kaddish, das jüdische Gebet für die Toten, und einem Geigenkonzert. Später fand im Königsberger Dom ein Konzert jüdischer Musik, begleitet von Videos über den Holocaust in russischer Sprache statt, wobei die schriftlichen Übersetzungen der Kommentare in englischer und deutscher Sprache auf den Leinwand zu sehen waren.

In den nächsten Tagen begleitete mich das Filmteam überall hin und stellte immer wieder Fragen auf Russisch, die ins Deutsche übersetzt wurden. Ob ich mich an 

die Bombardierung Königsbergs durch die RAF in August 1944 erinnere? Ich erzählte ihnen von dem roten Schein am Himmel, den wir in jener Nacht vom Bauernhof meiner Großeltern aus sehen konnten, als die Stadt, die ich als Königsberg kannte, in fünfzig Kilometer Entfernung zerstört wurde. Sie interviewten mich immer noch am 31. Januar, als sie mich zu meinem Flug nach Chicago zum Flughafen brachten. 

Alles in allem war es eine ernüchternde und doch faszinierende Erfahrung, mit diesen jungen russischen Filmmachern zusammenzusein. Ich hoffe, dass der Dokumentarfilm, an dem das AB-TV-Team so hart gearbeitet hat, helfen wird, dass Ereignisse wie das Massaker in Palmnicken sich nirgendwo auf der Welt wiederholen werden. Dann können wir alle zusammen freudig sagen, wie es die Russen 1945 taten, „Woyna kaputt!“