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05.04.19 / Deutsche Vielfalt in St. Petersburg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-19 vom 05. April 2019

Deutsche Vielfalt in St. Petersburg
Harald Tews

Lange bevor globalistisch geprägte Zeitgenossen das Wort „Vielfalt“ in einen Kampfbegriff umwandelten, gab es eine solche kulturelle Vielfalt im russischen Reich. Menschen verschiedener Nationen trugen mit dazu bei, dass das ländlich geprägte Zarenreich zu einer Großmacht wurde. Darunter auch Deutsche. 

Vergöttert von den sogenannten Westlern, verteufelt von den Slawophilen hinterließen die Deutschen viele Spuren in der Wirtschaft, Kultur – und im Zarenhof. Im früheren Zentrum der russischen Macht, in St. Petersburg, befand sich denn auch die größte deutsche Gemeinde. Rund 50000 Deutsche sollen dort gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelebt haben, rechnet Christian Neef in „Der Trompeter von Sankt Petersburg – Glanz und Elend der Deutschen an der Newa“ nach.

In seinem auf fundierter Recherche beruhenden Buch erinnert der Russlandkenner und frühere „Spiegel“-Korrespondent exemplarisch an das Schicksal einer Handvoll Deutscher, die voller Hoffnungen nach Russland gekommen waren, ehe sie die Folgen der Oktoberrevolution mit voller Macht und zum Teil am eigenen Leib zu spüren bekamen. Im Mittelpunkt dieser biografischen Reise steht der Blasmusiker und Komponist Oskar Böhme, der mangels Aussicht auf ein erträgliches Engagement in seiner Heimat 1898 sein Glück als Kornettist in St. Petersburg suchte. 

Neef liefert jedoch keine plumpe Künstlerbiografie ab. Ihm geht es darum zu zeigen, wie Böhme und andere Deutsche in den Strudel der stalinistischen Säuberungen gerieten. Böhme steht dabei stellvertretend für viele zum Tode verurteilte Künstler. Immer eng an Archivmaterialen orientiert verfolgt Neef das Leben Böhmes bis zu dessen Verbannung nach Orenburg an der kasachischen Grenze wegen angeblicher Konspiration mit den „Volksfeinden“. Das Ende Böhmes dokumentiert der Autor anhand von offenbar manipulierten Verhörprotokollen des NKWD, aus denen hervorgeht, dass Böhmes Todesurteil schon vorher feststand. 

Als Deutsche wurden auch die Nebenpersonen dieses Buches verfolgt. Das Brüderpaar Karl und Otto Kirchner, das in beider Fabrik nach der Revolution die Zarenmotive beliebter Abreißkalender abrupt in jene der Arbeiterführer umwandeln musste, wurde als Kapitalisten von der eigenen Belegschaft angefeindet. Beide verloren ihre Fabrik, konnten aber nach Berlin fliehen. Enteignet wurde auch der Apotheker Poehl, an dessen altem Geschäft in St. Petersburg heute immerhin wieder der Name an ihn erinnert. Für den Untergang der evangelischen Gemeinde der Stadt steht der baltendeutsche Pastor Eduard Maas, der sich mit seiner Familie früh nach Tilsit absetzen konnte, wo später sein Enkel Armin Mueller-Stahl geboren wurde, der als Schauspieler berühmt werden sollte. 

Neef porträtiert diese Schicksale mit viel Liebe zum Detail. Zu diesem Zweck vergrub er sich tief in die Archive und wälzte alte Tageszeitungen. So erfährt man 

en passant, dass am Tage von Böhmes Ankunft in Orenburg im dortigen Theater Gogols „Revisor“ auf dem Spielplan stand.

Eindringlich aber beschreibt er, wie die Deutschen während Stalins Terrorherrschaft verfolgt wurden, „nur weil sie Deutsche“ waren. So erging es auch Peter Amman, einem Opfer der Zwangskollektivierung auf dem Land. Wie Böhme landete er auf der sogenannten Deutschenliste. Beide wurden 1938 erschossen, wobei Böhme lange Zeit als verschollen galt. Erst 1995 konnten seine Todesumstände aufgeklärt werden. 

Die Schilderungen der Verhaftungswelle erinnern an die Judenverfolgung in Deutschland, wenngleich sie nicht dasselbe Ausmaß erreichten. Während man aber hierzulande weiter am Aufarbeiten der eigenen Geschichte ist, tun sich die Russen schwer damit. Neef erwähnt, dass im Zuge von Gorbatschows Perestroika Böhme im Jahr 1989 rehabilitiert wurde. Es klingt, als hätten die Russen damit einen Schlussstrich unter ihre eigene Geschichte des „Großen Terrors“ ziehen wollen. 

Man muss Neef dafür dankbar sein, dass er mit seinem bis 1938 erzählendem Buch das Schicksal der Deutschen in St. Petersburg der Vergessenheit entrissen hat. Dazu hat er ein faktenreiches Buch vorgelegt, das sich in einem Rutsch lesen lässt, und Porträts geschaffen, die in einen spannenden historischen Kontext gebettet sind. Man kann die Russen nur bedauern: Mit Stalins Verfolgungskampagne gegen Deutsche haben sich die Russen selbst ein Bein gestellt und großes, vielfältiges Potenzial vernichtet. 

Laut Neef haben die St. Petersburger immerhin einem Deutschen ein Denkmal gesetzt: dem aus Schlesien stammenden Fotografen Carl Bulla, dessen Schwarz-Weiß-Fotos der Stadt im Buch abgebildet sind.

Christian Neef: „Der Trompeter von Sankt Petersburg – Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“, Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 384 Seiten, 28 Euro