19.04.2024

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19.04.19 / Überlebt, um Zeugnis abzulegen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-19 vom 19. April 2019

Überlebt, um Zeugnis abzulegen
Franz Gissau

Das Buch „Wir haben überlebt“ gehört zu den raren mehrsprachigen. Sie sind meist deshalb rar, weil die Übersetzung in andere Sprachen ein Buch teurer macht. Die Zeitzeugen haben die beiden Herausgeber Gerolf Fritsche und Hans Mirtes nicht nur sorgfältig ausgesucht, sondern deren Aussagen ebenso sorgsam aneinandergefügt, und zwar Seite für Seite links deutsch und rechts tschechisch. Die Sorgfalt erstreckt sich auch auf die Bildauswahl. Über 40 sind es insgesamt. Aber nicht nur das. Alle sind durchgehend mit erläuternden zweisprachigen Texten versehen.

Dass das Buch so gut gelang, ist den beiden Übersetzern Gudrun Heißig und Adalbert Wollrab zu danken. Sie zeichnen auch für die zweisprachige Erläuterung der Vertreibungskarte verantwortlich. Sie ist auf Seite 213 eingefügt und mehrfarbig in Hochglanz ausgeführt. Bemerkenswert ist, dass nicht nur das kleinräumigere Geschehen der sudeten- und karpatendeutschen Vertreibung dargestellt wird, sondern dieses in eine Karte eingebettet ist, die das ganze mitteleuropäische Vertreibungsgeschehen erfasst, zum Beispiel die Bevölkerungsbewegungen in Ostpreußen mit seinen Besonderheiten genauso klar wie die in Ungarn. Sie ist außerdem als Klappkarte so groß und ansehnlich (um das Wort „schön“ im Zusammenhang mit Vertreibung zu vermeiden), dass einige das Buch sogar kaufen, um die Klappkarte herauszulösen und aufzuhängen. Sie ist sicher eine der besten Karten zum Thema. 

Das Buch zeigt ein schönes farbiges Titelbild, nämlich ein deutsches Dorf in den Elbebergen. Es sieht 1944 so friedlich aus, dass sich der Betrachter kaum vorstellen kann, dass es danach für einige Deutsche schwer war, das Leben zu bewahren. Die Zeitzeugen berichten nicht nur über den jeweils unterschiedlichen Akt der Vertreibung – also den Verlust dessen, was ihre Heimat ist, sondern sie berichten zunächst, wie sie in ihrer Welt aufwuchsen, ohne dass jemand von ihnen ahnte, dass das jemals infrage stehen könnte. Die Vertreibung selbst ist dann oft ein Vorgang, in dem allmählich klar wird, wie endgültig sie sein kann. 

Der erste Zeitzeuge Otto Seidl aus Graslitz gibt ein zutreffendes Bild der Zwischenkriegs-CSR, wie wir es trotz vieler Berichte von Zeitgenossen so genau nicht kennen. Dass Prag im September 1938 für Deutsche eine verbotene Stadt war, weiß kaum jemand, ist aber Teil des glücklichen Erlebnisses, das zum Beispiel Seidls Entkommen über Polen nach Schweden ermöglichte. Auch Josef Freimann aus Metzenseifen in der Slowakei war bereits 23 Jahre alt, als er die Verschleppung in die Ukraine erlebte. Er nennt noch die Namen der 29 Metzenseifer, denen dieses Überleben versagt blieb. Fast Unglaubliches berichtet Anna Zavacka aus Hopgarten. Sie wurde noch im Februar 1945 von den einfallenden Russen nach Sibirien geschickt. Die Hopgärter Arbeitssklaven erzählten dort den Milizionären beständig, wie unschuldig sie aus ihrem Karpatendorf verschleppt seien. Es geschah eine Art Wunder. Ein Milizionär fuhr den langen Weg nach Hopgarten und fand ihre Aussagen bestätigt. Er schickte sie noch vor Weihnachten zurück in ihr Dorf. Anni Bostelmann aus Joachimsthal war bei dem furchtbaren Geschehnis am 31. Juli 1945 an der Aussiger Brücke dabei, wurde in die Elbe geworfen und rettete sich mit ihrer Tochter auf ein niederländischer Frachtkahn. 

Milena Vaculik aus Brünn schildert den Todesmarsch mit ihrer Mutter. Erst in Wien wurden sie gewahr, wie sehr sie sich übernommen haben. Im Lainzer Kloster erliegt ihre Mutter den Verletzungen des Todesmarsches. Irgendwie erfährt die Tante in Brünn, dass Milena in Wien verzweifelt allein ist. Ihrem Mann gelingt ein kleines Wunder. Er holt Milena schon 1946 nach Brünn zurück. Ihr Bericht gehört in der Folge auch in der Hinsicht zu den interessanten, denn er zeigt, wie es sich in der total veränderten „Heimat“ lebt.

Gerolf Fritsche/Hans Mirtes (Hg.): „Wir haben überlebt/Prežili jisme“, mehrsprachig: Deutsch, Slowakisch, Tschechisch, Ortmaier Verlag, Frontenhausen 2016, broschiert, 215 Seiten, 15 Euro zuzüglich Versandkosten, Bezugsadresse: hans.mirtes@t-online.de