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26.04.19 / Betrachtung der polnischen Geschichte aus der Feder eines Experten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-19 vom 26. April 2019

Betrachtung der polnischen Geschichte aus der Feder eines Experten
Karlheinz Lau

Wissen um Polen und seine Menschen ist in der deutschen Bevölkerung nicht sehr verbreitet. Der beachtliche strukturelle wirtschaftliche Wandel mit positiven Ergebnissen wird überwiegend nur von der Wirtschaft wahrgenommen. Polen ist einer der wichtigsten Handelspartner für Deutschland, eine Fahrt über die Autobahn A12 Richtung Frankfurt/Oder und Posen zeigt den starken Lkw-Verkehr in beide Richtungen. Trotz dieser positiven Entwicklungen haben – etwa im Vergleich zu Frankreich – verhältnismäßig wenige Deutsche das Land östlich von Oder und Neiße persönlich kennengelernt. 

Das verwundert deshalb, weil die polnischen Westgebiete Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien und das südliche Ostpreußen bis 1945 deutsches Reichsgebiet waren, und viele Deutsche einen familiären Hintergrund im Osten haben. Ohne es direkt auszusprechen, will Gerhard Gnauck mit seinem Buch „Polen verstehen“ gegen diese Defizite ankämpfen. Kompetent dafür ist er als Korrespondent der „FAZ“ für Polen und andere ostmitteleuropäische Staaten. Er stammt aus einer deutsch-polnischen Familie, ist in Warschau geboren und hat osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert.

Die geschichtliche Entwicklung Polens von der Zeit der Teilungen bis in die Gegenwart ist inhaltlich der rote Faden seiner Darstellung. Er beschreibt durchgängig und gleichgewichtig die Stellung des Landes zwischen Deutschland und Russland. Im Zentrum stehen die Ereignisse seit der Staatsgründung 1918 

– die zweite Republik –, die Jahre zwischen den Weltkriegen bis 1939, das Trauma der Aufteilung zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion sowie die Schrecken und Verbrechen der Besatzungspolitik beider Diktaturen, die „Befreiung“ 1944/45 durch die Sowjetunion sowie die Etablierung der kommunistischen Volksrepublik. Schließlich werden die Ereignisse um die Gewerkschaft Solidarnosc und der politischen Wende 1989/90 dargestellt, Es beginnt die Phase der dritten Republik, und die Schlusskapitel enden in der Gegenwart. 

Der Autor zeigt sich als profunder Kenner der polnischen Geschichte und Politik, besonders seine Ausführungen über die Differenzen und Streitpunkte, die Polen an seinen Ostgrenzen mit den Nachbarn Litauen, Weißrussland, Sowjetunion/Russische Föderation sowie Ukraine bis heute hat. Es ist eine ethnische Gemengelage, man denke an Polen in Litauen oder Ukrainer in Polen. Hier spielte Jan Pilsudski bis zu seinem Tod eine entscheidende Rolle, etwa seine Vorschläge für einen Präventivschlag gegen das Deutsche Reich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Gnauck beschreibt ausführlich die Persönlichkeit dieses Mannes. 

Diese Passagen des Buches sind deshalb besonders wichtig, weil polnische Geschichte bei uns überwiegend im Verhältnis zu Deutschland gesehen wird. Dabei ist der Osten für Polen heute wichtiger als die stabil gewordene Westgrenze an Oder und Neiße. Eine besondere Berücksichtigung der früheren deutschen Ostprovinzen und heutigen polnischen Westgebiete findet sich nicht, allenfalls die zeitgleiche Vertreibung der Deutschen und der Polen aus ihren Ostgebieten, jedoch ohne Qualifizierung der unterschiedlichen Kulturräume. Es entsteht der Eindruck, dass diese Frage nach endgültiger Anerkennung der polnischen Westgrenze kaum noch ein Thema der Besorgnis für den Normalpolen ist, im Gegensatz zur Ostgrenze. 

Von aktuellem Interesse sind besonders die Schilderungen der Persönlichkeit, Mentalität und politischen Strategie des Vorsitzenden der Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski. Nach Gnaucks Einschätzung wird sich diese Partei noch länger halten. 

Als sensibel muss weiterhin das polnisch-jüdische Verhältnis charakterisiert werden, das zeigt die Anfang 2018 eingebrachte Gesetzesnovelle, durch die jede Behauptung einer polnischen Beteiligung am Holocaust unter Strafe gestellt wird. 

Der Autor sieht die Geschichte Polens vornehmlich seit den Teilungen als entscheidenden Faktor zur Entstehung einer Bewusstseinslage und einer nationalen Identität: die Heldennation, die sich gerade in den Leidenszeiten der Teilungen und der Besetzungen während des Zweiten Weltkrieges bewiesen hat, das Trauma zwischen den Großmächten in Ost und West, der nationale Stolz auf das Erreichte seit der Befreiung aus der kommunistischen Bevormundung. Der Einfluss der katholischen Kirche vor Ort sowie das nach wie vor bestehende Stadt-Land-Gefälle müssten noch hinzugefügt werden. Sehr hilfreich für das Verständnis der Texte sind zahlreiche Zitate bekannter Persönlichkeiten oder wichtiger Dokumente wie das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 sowie Kartenmaterial und eine Zeittafel, die mit Beginn der Etablierung eines polnischen Staates im Mittelalter anfängt. Die zahlreichen Anmerkungen sowie eine umfassende Literaturauswahl zeugen von der Solidität der Arbeit. Dass Gnauck Journalist ist, zeigt sein verständlicher Schreibstil, wobei hervorzuheben ist, dass er stets bei Interpretationen betont, dass er seine Meinung referiert. 

Das Buch ist eine ganz wichtige und aktuelle Übersicht über die polnische Geschichte seit den Teilungen bis in die Gegenwart. Wer sich für die Thematik interessiert, muss es zur Kenntnis nehmen.

Gerhard Gnauck: „Polen verstehen – Geschichte, Politik, Gesellschaft“, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018, broschiert, 317 Seiten, 9,95 Euro