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03.05.19 / Das Atelier als Labor / Suche nach der vierten Dimension – Marcel Duchamp in Schwerin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-19 vom 03. Mai 2019

Das Atelier als Labor
Suche nach der vierten Dimension – Marcel Duchamp in Schwerin
Helga Schnehagen

Die bildende Kunst begann sich vor rund 100 Jahren mit dem rasanten technischen Fortschritt – nicht nur in der Fotografie – neu zu erfinden. Die übergeordnete Erfindung ist die Abstraktion, der sich die Künstler fortan auf unterschiedlichste Weise widmen. Gelten Impressionismus, Expressionis­mus, Kubismus – um nur einige der „ismen“ der modernen Kunst zu nennen – noch als „gefällig“, sind radikale Anti-Kunstbewegungen wie Dadais­mus, Surrealismus und Konzeptkunst eine offene Revolte gegen alle traditionellen Kunstformen und im weiteren Sinn die Gesellschaft und ihr Wertesystem. Eine derart radikale Abkehr von traditionellen Normen hatte es in der Kunst bis dahin nicht gegeben.

Marcel Duchamp zählt zu ihren frühesten und radikalsten Vertretern. 1887 in Blainville-Crevon bei Rouen in der Normandie geboren und 1968 in Neuilly-sur-Seine, einem Vorort von Paris, im Alter von 81 Jahren gestorben, stellt er auf der Luftfahrtschau von 1912 in Paris fest: „Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller?“ Fortan durchdringen Wissenschaft und Technik seine Arbeiten, stellt er die Frage nach der „vierten Dimension“ und wird sein Atelier zum Laboratorium sowie sein Werk zu einem visionären Experimentierfeld.

Mit 91 Werken aus allen Schaffensphasen besitzt Schwerin neben Philadelphia, Stockholm, Paris und Stuttgart eine der bedeutendsten Du­champ-Samm­lungen weltweit. Sie bildet die Grundlage der aktuellen Ausstellung im Staatlichen Museum, die mit Hauptwerken wie das „Große Glas“, die „Grüne und Weiße Schachtel“, die Readymades „Fresh Widow“, „Air de Paris“ und „Stolperfalle“ oder auch die Rotoreliefs einen umfassenden Blick auf seine Arbeit erlauben. 

Im Mittelpunkt der Ausstellung „Marcel Duchamp: das Unmögliche sehen“ steht das gewagte Spiel mit der Erotik. In Duchamps Hauptwerk, dem „Großen Glas“, versteckt sich eine erotische Maschine. Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ verfremdet er durch Hinzufügung eines Bärtchens und der Buchstaben L.H.O.O.Q., was laut gesprochen „elle a chaud au cul“, ein vulgärer Ausdruck für „sie ist geil“, bedeutet. 

Duchamp begnügt sich jedoch nicht mit der Rolle des Transformers. Als „Rrose Sélavy“, was so viel heißt wie „eros c’est la vie“, „Eros ist das Leben“, transformiert er sich selber zur Frau, mit der er fortan gemeinsam seine Werke signiert und editiert. Duchamps Gender-Transformation von 1920, die Man Ray fotografisch festhält, ist gerade heute wieder aktuelles Thema.

Die Verfremdungen, Verwandlungen und Widersprüche machen Duchamps Kunst für den Betrachter nicht leicht fassbar. Doch je mehr man sich in dessen Absurditäten hineindenkt, desto mehr offenbaren sich darin die realen Absurditäten unserer Zeit. Der Versuch, das Unmögliche zu sehen, lohnt also. Mit der Ausstellung feiert das Duchamp-Forschungszentrum am Schweriner Museum noch bis zum 26. Mai sein zehnjähriges Bestehen. 


Bis 26. Mai im Staatlichen Museum Schwerin, Alter Garten 3, geöffnet Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Eintritt: 8,50 Euro, www.museum-schwerin.de