29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
10.05.19 / Wie am Nasenring

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-19 vom 10. Mai 2019

Wie am Nasenring
Volker Wittmann

Ob in Gaststätten, Cafés, Bussen oder Bahnen, überall das gleiche Bild: Salzsäulen, reglos stehend oder sitzend, gebannt auf Mobiltelefone starrend. Wer dazukommt, zückt sogleich sein Zubehör, beugt sich wie von unsichtbarer Hand am Nasenring gezogen darüber und fällt in dieselbe Pose. Nur die Daumen daddeln. Selten schaut eine der denkmalsgleichen Gestalten auf, schickt geistesabwesend einen mehligen Blick in die unmittelbare Umgebung, um sogleich wieder abzutauchen in die körperlose Welt des Internet, ins Nirwana aus Nullen und Einsen, beseelt von elektrischen Impulsen.

Schon 2005 kürten Sprachkundige den Ausdruck Snombie zum Jugendwort des Jahres. Es fasst die Begriffe Smartphone und Zombie zusammen, also die Verbindung einer Handvoll Elektronik mit einem Untoten, einer düsteren Daseinsform, nicht Lebewesen und nicht Leiche sondern irgendwo dazwischen.

Täuschen wir uns nicht: Sie sind schon in der Mehrheit. Nur ein bröckelnder Rest meist älterer Zeitgenossen kommt sich noch vor wie im falschen Film und folgt dem stummen Treiben mit Beklemmung. Schon 84 Prozent aller Deutschen sind online. So lautet eine neuere Schätzung. Der Anteil der unter 30-Jährigen verbringt täglich mehr als vier Stunden 

im Internet. Gesellschaftswissenschaftler nennen dergleichen Schwarmverhalten. Merkmal von Schwärmen ist eine gleichförmige Bewegung ihrer Mitglieder in dieselbe Richtung. Ohne Tritt Marsch!

Vom Philosophen Friedrich Nietzsche ist der Spruch überliefert, wer nicht wenigstens über ein Drittel seiner Zeit verfügen könne, sei nicht frei. Snombies opfern ihrer Neigung fast jede freie Minute. Sie sind offenbar in den Klauen einer Sucht nach dauernder Reizüberflutung gefangen. Harald Lesch, Physiker und Mattscheiben-Moderator: „Wir sind online – immerzu und jederzeit.“

Mit unseren Angaben im Netz berechnen Computerprogramme unsere Hautfarbe, welche politische Einstellung wir vertreten oder ob wir in einer Beziehung leben. So warnt Lesch: Ein Kaufhaus könne aus den verfügbaren Daten herauslesen, welche Kundin schwanger ist, bevor sie es ihren engsten Vertrauten erzählt hat. „Die Einzelheiten, die wir preisgeben, lassen sich nutzen, um unsere Entscheidungen fast unbemerkt zu beeinflussen.“

Der Chef des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, beobachtet Einbrüche bei der Rechtschreibung und mangelndes Textverständnis der Schüler. Keine Bücher, dafür täglich Hunderte von Kurznachrichten auf dem Mobiltelefon verschlechtern die Lesefertigkeit.

Der Bonner Psychiater und Buchautor Michael Winterhoff hält die elektronische Verführung für ungesund: „Die digitale Welt überfordert Erwachsene so sehr, dass sie es nicht mehr schaffen, ihre Kinder auf das Leben vorzubereiten.“ Vor allem gehöre das modische Spielzeug nicht in die Hand der Kleinen. „Je früher Kinder mit Smartphones, Tablets und Computern konfrontiert werden, desto autistoider werden sie.“ Sein neues Buch trägt den Titel „Deutschland verdummt“.