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10.05.19 / Eitler Jubel / 70 Jahre Grundgesetz: Deutschlands Elite feiert die Verfassung als Vorbild für die Welt – Doch es lohnt ein genauerer Blick

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-19 vom 10. Mai 2019

Eitler Jubel
70 Jahre Grundgesetz: Deutschlands Elite feiert die Verfassung als Vorbild für die Welt – Doch es lohnt ein genauerer Blick
Dirk Pelster

Noch im Jahre 2011 bezeichnete der Staatsrechtler und ehemalige Verfassungsrichter Rupert Scholz in einem Interview der Zeitschrift „Das Parlament“ das Grundgesetz stolz als „Exportschlager“. Auch ansonsten erfreut sich das vor          70 Jahren am 23. Mai 1949 als Provisorium für einen Übergangszeitraum in Kraft getretene Gesetzeswerk heute hoher Beliebtheit. Doch ist das Grundgesetz wirklich eine so gute Verfassung, wie dies in Sonntagsreden immer wieder gern behauptet wird?

Schon ein erster Blick auf seine Geschichte lässt Zweifel aufkommen. Während der Dauer seiner Existenz wurde das Grundgesetz allein 63 Mal geändert. Zuletzt geschah dies im März des laufenden Jahres. Vergleicht man die Entwicklung mit der noch heute geltenden Verfassung der Verei­nigten Staaten von 1787, die in 232 Jahren lediglich 18 Mal angepasst wurde, so sprechen die im Durchschnitt fast jährlichen Veränderungen des Grundgesetzes nicht gerade für die besondere Weitsicht oder die legislative Handwerkskunst des bundesdeutschen Gesetzgebers.

Anders als von Rupert Scholz behauptet, stand das Grundgesetz auch nicht Pate bei der Schöpfung anderer Verfassungen. Zutreffend ist lediglich, dass die mit dem bundesdeutschen Staatsrecht gemachten Erfahrungen Eingang in die der Verfassungsgebung vorausgehenden Konsultationen zahlreicher Staaten nach 1949 gefunden haben. Dies gilt etwa für die sich nach dem Zerfall des kommunistischen Blocks neu konstituierenden Republiken Mittel- und Osteuropas in den 90er Jahren, aber auch für die Verfassungsreformen in Indonesien im Jahre 2004. Spezielle und nur für das Grundgesetz charakteristische Merkmale haben jedoch kaum Vorbildcharakter für andere Nationen gehabt und sind demzufolge auch nicht in deren Verfassungen berücksichtigt worden.

Problematisch am Grundgesetz ist nach wie vor seine fehlende demokratische Legitimation. Weder vor seinem Inkrafttreten 1949, noch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurde es dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Von Seiten des etablierten Politbetriebes wird dieser Einwand gerne mit dem Hinweis gekontert, dass auch die Weimarer Reichsverfassung nie durch ein allgemeines Plebiszit legitimiert, sondern lediglich durch eine Vertreterversammlung verabschiedet wurde. 

Dieser Vergleich ist zwar formal korrekt, hinkt aber zugleich in mehrfacher Hinsicht, denn die Deputierten der Weimarer Nationalversammlung wurden von den Deutschen eigens zu dem Zweck gewählt, eine neue Verfassung auszuarbeiten, während die Mitglieder des Parlamentarischen Rates lediglich auf Geheiß der westlichen Alliierten von den westdeutschen Landtagen zur Ausarbeitung eines inhaltlich im Wesentlichen vorgegebenen Grundgesetzes bestellt worden sind. Damit fehlte es dem Parlamentarischen Rat jedoch an einer gleichwertigen demokratischen Legitimation wie weiland der Weimarer Nationalversammlung. Auch erfolgte die verfassungsrechtliche Neuschöpfung nicht aus eigenem Antrieb und eigener Souveränität, sondern aus dem Willen fremder Besatzungsmächte. 

Dieser Legitimationsdefekt ist dabei keineswegs eine nur für Rechtshistoriker bedeutsame verfassungsgeschichtliche Reminiszenz, sondern er zeitigt noch heute seine Wirkungen. Besonderen Ausdruck erhält er durch die anhaltende und vehemente Ablehnung der herrschenden Politiker-Elite gegenüber direktdemokratischen Instrumenten, etwa, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich im April des vergangenen Jahres unter Verweis auf die spezielle „politische DNA“ der Bundesrepublik gegen die Einführung von bundesweiten Volksabstimmungen aussprach. Nach wie vor sind politische Kultur und Verfassungsrechtslage in Deutschland geprägt vom Vorbehalt gegen den Bürger. Er wird nicht als Souverän, sondern als Mündel betrachtet, das vor sich selbst geschützt werden müsse.

Doch das Grundgesetz wird nicht nur vom Leitbild einer begrenzten Demokratie bestimmt, sondern auch der Grundsatz der Gewaltenteilung ist im Staatsrecht der Bundesrepublik nur unzureichend verwirklicht. Lediglich die Parlamente in Bund und Ländern werden von den Bürgern gewählt. Die Regierung und die obersten Richter bestimmen die Parlamentarier dann selbst. In diesem System der Gewaltenverschränkung haben sich die klassischen Aufgaben von Judikative, Legislative und Exekutive weitestgehend verschoben. So werden Gesetzesentwürfe heute in der Regel nicht mehr von den Abgeordneten des Bundestages eingebracht, sondern von der Regierung. Auch eine wirksame Kontrolle der Exekutive findet nicht statt, da die Bundesregierung stets von denselben politischen Parteien gestellt wird, die auch im Parlament die Mehrheit haben.

Ein großes Manko im grundgesetzlich geregelten Staatsaufbau ist die Ausgestaltung des Föderalismus. Nominell liegt die originäre Gesetzgebungszuständigkeit bei den Ländern, doch der Bund hat im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte fast alle wichtigen Regelungsbereiche an sich gezogen, sodass die Gliedstaaten der Bundesrepublik heute kaum noch eine eigenständige und über den Status einer bloßen Verwaltungseinheit hinausgehende Bedeutung haben. Zudem sind europarechtliche Vorgaben für den Erlass von Gesetzen immer entscheidender. In Brüssel verhandelt man jedoch nicht mit den einzelnen Landesregierungen, sondern direkt mit Berlin. 

Aus diesem Grund haben die Länder im Austausch für die schwindenden eigenen Kompetenzen immer mehr Mitspracherechte auf Bundesebene erhalten. Dies hat zur Folge, dass bei der Verabschiedung von Gesetzen heute eine Vielzahl von Akteuren zu beteiligen ist. Das Ergebnis ist – neben einer Vielzahl von schlechten Kompromissen – die fehlende Zuordbarkeit der politischen Verantwortung für den Bürger.   

Unbefriedigend ausgestaltet ist auch das Verhältnis zwischen den Ländern. Durch die Regelungen des Finanzausgleichs verpuffen die Reformanstrengungen einzelner Gliedstaaten. Während Bayern beispielsweise ein beeindruckender Strukturwandel von einem Agrarstaat hin zu einem modernen Industriestandort gelungen ist, fließen die monetären Früchte dieser Kraftanstrengung in einen gemeinsamen Haushalts­topf aller Bundesländer ab, aus denen Stadtstaaten wie Bremen und Berlin dann die Einrichtung von neuen Lehrstühlen für „Gender-Studies“ alimentieren.

Die genannten Strukturschwächen des Grundgesetzes werden in den politischen Debatten kaum zur Kenntnis genommen. In der öffentlichen Wahrnehmung werden seine zahlreichen Defizite vor allem durch den besonderen Stellenwert der Grundrechte im bundesdeutschen Staatsrecht überlagert. Der Katalog geschützter Individualrechte unterscheidet sich dabei nicht nennenswert von dem der untergegangenen DDR oder auch von dem anderer Staaten. 

Lediglich die Einrichtung eines weitestgehend uneingeschränkten Asylrechts für politisch Verfolgte aus anderen Ländern ist ein Alleinstellungsmerkmal, welches das Grundgesetz beim Grundrechtsschutz von den Verfassungen anderer europäischer Staaten unterscheidet. Der besondere Stellenwert der Individualrechte kommt dabei in der Schaffung eines eigenen Verfahrenszweiges zum Ausdruck. Mit dem Instrument der Verfassungsbeschwerde kann ein Betroffener heute letztinstanzlich jeden staatlichen Eingriff auf seine Grundrechtskonformität hin überprüfen. Dies ist tatsächlich ein Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte. 

Problematisch ist dabei, dass Grundrechte im Wesentlichen wiederum nur durch die Grundrechte Dritter, nicht aber durch Rechte der Gemeinschaft in ihrem Wesenskern eingeschränkt werden können. Besonders deutlich zeigt sich dies etwa beim Asylrecht. Fehlende Aufnahmekapazitäten oder eine nachhaltige Zerstörung des inneren Friedens sind daher keine Kriterien, die dem Recht einzelner Asylsucher entgegengehalten werden könnten. Galt während der Zeit des Nationalsozialismus die Losung „Du bist nichts – Dein Volk ist alles“, wählte das Grundgesetz genau den entgegengesetzten Weg, ohne die berechtigten Interessen von Einzelnem und Gesellschaft in Einklang zu bringen.