Kundig erläuterte Raimar Neufeldt zwischen den einzelnen Gängen des Festmahls die regionalen Besonderheiten der Speisen. Der 1. Vorsitzende des Vereins Forum Baltikum – Dittchenbühne in Elmshorn griff dabei auf Erinnerungen aus mehr als drei Jahrzehnten enger und gewachsener Beziehungen zurück, die schon früh den Blick auch auf Litauen, Lettland und Estland einschlossen.
Hier, in der am letzten Freitag im April veranstalteten XII. Baltischen Tafelrunde, kam durch den Festredner ein besonders starker baltischer Akzent in die Veranstaltung. Eingeladen war Christian von Boetticher – ein Mann der Wirtschaft und CDU-Mitglied. Er ist aber auch seit 2015 der Vorsitzende der Deutschbaltischen Gesellschaft, des in Darmstadt angesiedelten Dachverbandes von sieben deutschbaltischen Vereinigungen. In seiner Zeit als EU-Parlamentarier war er – auf eigenen Wunsch – Mitglied des für Lettland zuständigen Ausschusses. Das hatte einen familiengeschichtlichen Grund: Sein Großvater wurde 1901 in Riga geboren. Er hatte noch das Glück, die Wende der Verhältnisse Ende der 1980er/zu Beginn der 1990er Jahre zu erleben. Christian von Boetticher räumte ein, dass für ihn als Heranwachsenden Lettland und Estland „geistig schrecklich weit weg“ gewesen seien, anders als für aus Ostpreußen stammende Menschen der Bezug zu ihrer Herkunftsregion gewesen sein mag. Sein Vergleich der kleinen Völker der Letten und Esten mit den Kurden war originell. Ihre Gemeinsamkeit: Über Jahrhunderte hatten sie nie eine eigene Selbstverwaltung.
Sein Thema an diesem Abend lautete: „Die Baltischen Länder: 30 Jahre singende Revolution,
15 Jahre EU-Mitgliedschaft – eine Erfolgsgeschichte.“ Natürlich konnte sich der Redner nicht auf die zurückliegenden drei Jahrzehnte beschränken. Ein gelungener „Ritt“ durch sieben Jahrhunderte „Vorgeschichte“ musste sich der eingeräumten Zeitspanne und dem eigentlichen Thema unterordnen und konnte sich nur auf Nennung der wesentlichen Entwicklungen und Daten beschränken.
So wurde der Beginn der Freiheitsbestrebungen nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1816 benannt, der wachsende russische Druck auf die Ostseeprovinzen nach 1880, die erste Unabhängigkeit 1918 erwähnt, auch das für die Deutschbalten entscheidende Jahr 1939 mit seiner Fragestellung: „Gehen oder bleiben?“
Beim Rückblick auf die Erfolgsgeschichte der zurückliegenden drei Jahrzehnte war wichtig, noch einmal die Bedeutung der Menschenkette vom 23. August 1988 herauszustellen. Zwei Millionen Menschen dreier damals noch Sowjetrepubliken bildeten an dem Tag eine 600 Kilometer lange Menschenkette. Schon das Sängerfest 1988 in Estland hatte das Verlangen nach Freiheit, nach Änderung der Verhältnisse unübersehbar brodeln lassen.
Von Boetticher gelang mit dem einschränkenden Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung vor allem Estlands, die Erfolgsgeschichte überzeugend darzustellen. Die neue Verfassung Estlands orientierte sich auch am deutschen Grundgesetz. Marktwirtschaft – im Sinne Ludwig Erhardts – wurde als der Motor der wirtschaftlichen Gesundung verstanden. Die estländische Krone wurde an die D-Mark gekoppelt. Der Beitritt zur NATO wurde als Garant der territorialen Sicherheit angestrebt und vollzogen. Konsequent wurden die Voraussetzungen zur Aufnahme in die EU erfüllt. Sie erfolgte in 2004. Im Jahr 2011 konnte auch der Beitritt in die europäische Währungsunion vollzogen werden (in Lettland in 2014).
Sehr früh hat in Estland das Zeitalter der Digitalisierung begonnen. Als in Deutschland gerade 3,5 Prozent der Haushalte an das Glasfasernetz angeschlossen waren, waren es in Estland bereits 75 Prozent. 1999 waren alle Schulen Estlands online. Der Staat wird papierfrei regiert und verwaltet (E-Government) und spart damit – wie man errechnet hat – pro Jahr 800 Jahre Beamtenstunden. Die Liste positiver Beispiele ließe sich fortsetzen.
Von Boetticher schloss seinen überwiegend frei gehaltenen Vortrag mit: „Diese Entwicklung ist auch eine europäische Erfolgsgeschichte.“
Die 120 Gäste dieses Abends dankten mit großem Beifall. Zu späterer Stunde wurde mit nicht weniger Beifall allen Ehrenamtlichen der Dittchenbühne gedankt, die zum Gelingen dieses besonderen Abends beigetragen haben.