Über die Hälfte aller Amerikaner (und vermutlich auch Europäer) machen in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen, häufig aufgrund von häuslicher Gewalt oder durch Mobbing in der Schule. Oft kommen mehrere Probleme zusammen. Niemand kann den Folgen von andauerndem Stress für die seelische und körperliche Gesundheit entgehen. Einige Menschen entwickeln jedoch Strategien, um sich nicht durch ihre erlebten Belastungen definieren zu lassen. Sie fühlen sich entfremdet und schämen sich, wollen aber in ihrer Umgebung als normal gelten, sogar als „supernormal“.
Die Professorin für Klinische Psychologie an der University of Virginia Meg Jay war durch Fallbeispiele aus ihrer privaten Praxis auf das erstaunliche Phänomen der Resilienz aufmerksam geworden, also auf die Fähigkeit ihrer Patienten, selbst mit schwersten Kränkungen und Misshandlungen in der Kindheit umgehen zu können, um sich vor den destruktiven Auswirkungen zu schützen. An einem bestimmten Punkt angelangt, benötigen diese Personen oft aber therapeutische Hilfe.
In ihrem Buch „Die Macht der Kindheit. Wie negative Erfahrungen uns stärker machen“ erzählt Jay ausführlich zahlreiche solcher schwierigen Lebensgeschichten, darunter einige von Prominenten.
Es sind Geschichten von resilienten Menschen am Anfang oder in der Mitte des Lebens – in dieser Phase empfinden sie den größten seelischen Schmerz –, die eindrucksvolle Belege dafür liefern, wie brutal und schmerzlich die Verhältnisse und Probleme sind, mit denen sich Millionen Kinder und Jugendliche täglich auseinandersetzen müssen. Jay kommentiert die Geschichten mit Erkenntnissen aus der eigenen beruflichen Praxis sowie mit Studienergebnissen aus der Hirnforschung und der Psychoanalyse. Beschönigt wird in ihrem Buch nichts, dennoch ist es als Ermutigung gedacht.
Seitdem Resilienz als wichtiger Schutzfaktor der Psyche in den 1970er Jahren zum Forschungsthema in der Psychotherapie wurde, hat sich im therapeutischen Ansatz einiges geändert. Resilienz bedeutet auch lebenslange Arbeit.
Jay wählte für ihre Klientel den Begriff „supernormal“ als Adjektiv und Substantiv, um die täglichen Kämpfe resilienter Menschen begreiflich zu machen: „Viele erreichen nach außen hin unglaubliche Erfolge, nur um sich zu fragen, wie lange sie das noch durchhalten oder wann alles zusammenbrechen wird.“ Nicht ohne Grund nehmen sich die „Supernormalen“ selbst als Kämpfer und Macher wahr. Wie und was sie genau machen, lasse sich nicht auf eine Formel bringen, schreibt Jay. Die meisten hätten jedoch sich bietende Chancen erkannt und zugegriffen, wenn sich ihnen Hilfe von außen anbot. Liebe oder das Gefühl von Verbundenheit zu einem Elternteil, einem Lehrer oder zum Mentor, später dann zum Partner, wird oft zur Rettungsleine. Auch erbliche Veranlagung spiele als weiterer Faktor eine Rolle.
An Leser, die selbst betroffen und auf Suche nach Orientierung sind, wendet sich die Autorin gegen Ende ihres engagierten, voluminösen Buches mit Botschaften, die auf schlichten Lebensweisheiten beruhen, wie diese: „Für uns alle ergibt sich aus jeder neuen Begegnung eine Gelegenheit, nicht nur unsere Beziehungen, sondern auch unsere Gehirne und Leben zu überarbeiten.“
Meg Jay: „Die Macht der Kindheit – Wie negative Erfahrungen uns stärker machen“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018, gebunden, 458 Seiten, 24 Euro