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17.05.19 / Als die Kunden das Einkaufen lernten / Selbstbedienung wurde zum Kassenschlager im Einzelhandel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-19 vom 17. Mai 2019

Als die Kunden das Einkaufen lernten
Selbstbedienung wurde zum Kassenschlager im Einzelhandel
Klaus J. Groth

Am 4. Juni vor 70 Jahren wurde der erste Laden mit Selbstbedienung (SB) in Deutsch­land eröffnet. Die Idee des Self-Service kam aus den USA und leitete eine Revolution in der Lebensmittelbranche ein.

An Elvis war noch nicht zu denken, da wurde in Memphis, Tennessee ein Star geboren, der wie die Rocklegende einen Siegeszug rund um den Globus antreten sollte: Piggly Wiggly, der erste „self service store“ der Welt. Erfinder war ein Kaufmann, der sich darüber ärgerte, dass die Lebensmittelläden so klein waren und die Auswahl so dürftig war. Am Tag der Eröffnung des ersten Piggly Wiggly im September 1916 stand Clarence Saunders am Eingang und begrüßte jeden mit Handschlag, wie der „Tennessee Historical Quarterly“ anerkennend berichtete. Es gab Blumen für die Damen und Luftballons für die Kinder. Eine Brassband intonierte „When the saints go marching in“. Die Kunden gingen zögernd durch das Drehkreuz, in den Händen einen Korb aus Holz. Dass man sich so einfach das Gewünschte aus den Regalen nehmen konnte, war gewöhnungsbedürftig und das Warenangebot verwirrend. Über 600 Artikel stapelten sich in den Regalen, immer am selben Platz, von Dr. Kellogg’s Cornflakes über Waschpulver bis zu Wäscheklammern. Das raffinierte Piggly-Wiggly-System führte die Kunden auf dem Weg zur Kasse durch alle Gänge. Saunders diktierte dem staunenden Zeitungsreporter in den Block, dass er seinen Landsleuten mehr und gesündere Nahrungsmittel anbieten wolle. 

Das war aber nicht der einzige Grund, aus dem in Memphis schon bis Ende des Jahres neun Piggly Wigglys die Pforten öffneten. Im Selbstbedienungsladen waren die Kunden ihr eigenes Personal, das senkte die Kosten erheblich. Ein Jahr später erhielt Saunders das Patent für seine Erfindung. Er brachte es auf 1200 Supermärkte, ging an die Börse und verlor am Schwarzen Freitag 1929 alles.

In Deutschland gilt Herbert Eklöh als Pionier der SB-Märkte. 1938 startete er in Osnabrück einen Versuch. Es wurde ein Flop. Die Kunden konnten sich nicht an die US-amerikanische Art des Einkaufens gewöhnen. Noch herrschte Bescheidenheit auf den Esstischen, aber trotzdem brauchte die Hausfrau viel Zeit, um ihr selbstgehäkeltes Einkaufsnetz mit einem Viertel Leberwust, einer Ecke Käse, einem Brot und einem Bund Wurzeln zu füllen. Die Wurst gab es beim Schlachter, das Brot beim Bäcker, die Möhren beim Gemüsehändler und die Butter im Molkereigeschäft.

Das Konzept des Self-Service setzte sich erst mit Beginn der Wirtschaftswunderjahre in der jungen Republik durch. Der Kaufmann Bernhard Müller eröffnete in Augsburg den ersten florierenden SB-Laden. Die „Augsburger Allgemeine“ berichtete über dieses „Versuchslaboratorium der Einzelhandelstechnik …, durch das die Kunden mit einer Art Teewagen und einem Holzkasten bewaffnet“ spazieren und in dem sie sich alles ansehen konnten. Der Ansturm war so groß, dass das Geschäft zeitweilig schließen musste. Die Hausfrauen kamen sich vor wie im Schlaraffenland und staunten über die niedrigen Preise. „Verlust am Stück, macht’s die Masse“, ätzte die Konkurrenz. Tatsächlich betrug der Gewinn am einzelnen Produkt oft nur Pfennige, aber es wurde tausendfach abgesetzt. 

Um schüchternen Menschen die Schwellenangst zu nehmen, wurden im ersten Supermarkt in Düsseldorf die sogenannten BDS-Anleitungen verteilt: „Bediene-Dich-Selbst“. BDS pries die Vorteile der neuen Geschäfte in höchsten Tönen: „Die Hausfrau braucht nicht mehr anzustehen, sie kann ihre langweiligen Einkaufsvormittage auf fünf Minuten reduzieren und frei wählen, statt sich von Verkäuferinnen einschüchtern zu lassen, die immer das Teuerste loswerden wollen“. Einziger Nachteil: Anschreiben lassen ging nicht mehr. Die Registrierkassen, die ein US-amerikanischer Hersteller bald massenweise in der Bundesrepublik absetzte, kannten keine Gnade. 

1954 wurde das Einkaufen zum zweiten Mal neu erfunden. Die Brüder Theo und Karl Albrecht wandelten ihr ererbtes Lebensmittelgeschäft in einen Discountladen um. Kunden mussten die Waren direkt aus Kartons oder von Paletten heben. Personal war gegen null reduziert. Die ersten Discountmärkte sahen eher ärmlich aus. Dafür war „der Aldi“ unschlagbar billig. Besserverdiener rümpften die Nase. Beim Billigheimer wollte man nicht gesehen werden. Das Schmuddel-Image haftete den Discountern lange an. Heute stehen auf deren großzügigen Parkplätzen SUV, große Daimler und auch mal ein Porsche. Die Erfindung der Aldi-Brüder machte den Tante-Emma-Läden endgültig den Garaus. Das allgemeine Klagen über das Sterben der „dörflichen Kommunikationszentren“ half nicht. 

Inzwischen sind die beiden Discounter-Gladiatoren, Aldi und Lidl, in vielen Ländern vertreten. Im hart umkämpften US-Markt ist Aldi der Platzhirsch und zeigt, dass er auch anders kann. Neben dem klassischen Einfach-Format gibt es den Edel-Aldi, den hippen Trader Joe’s, mit Delikatessen, Produkten aus ökologischem Anbau und Weinen aus Europa, „kurzum allem“, meint das „Handelsblatt“, „was der standesbewusste linksliberale Amerikaner braucht.“

Die Möglichkeiten der Selbstbedienung sind noch längst nicht ausgeschöpft. Auch hier schreitet die Digitalisierung voran. Smartphones am Einkaufswagen sollen direkt zu den gewünschten Produkten führen, elektronische Preistafeln Reduzierungen kurz vor Ladenschluss in Sekundenschnelle möglich machen und I-Pads am Handgelenk Mitarbeiter zeitsparend vernetzen. In den USA eröffnet in Kürze der weltweit erste Roboter-Markt. Die Robots können bis zu 60 Artikel zu einem Abholpunkt bringen, wo der Mensch sie dankbar in Empfang nimmt. Dass der Kunde, „gut dressiert“, wie der Soziologe Craig Lambert schreibt, seinen Einkauf selbst einscannt und mit Handy bezahlt, ist heute schon in vielen Supermärkten möglich. Schöne neue Welt? Der Supermarkt der Zukunft wird viele Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichten. Davon sind in erster Linie junge Mütter und ältere Frauen auf Teilzeitstellen betroffen, die (noch) an den Kassen sitzen oder Waren einräumen, um etwas dazuzuverdienen und ihre Rente aufzubessern.