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17.05.19 / »Großmutter Europas« / Vor 200 Jahren kam Britanniens Queen Victoria im Kensington-Palast zur Welt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-19 vom 17. Mai 2019

»Großmutter Europas«
Vor 200 Jahren kam Britanniens Queen Victoria im Kensington-Palast zur Welt
Erik Lommatzsch

Mit Ausnahme ihrer aktuellen Nachfolgerin trug kein Monarch die britische Krone länger als sie. In ihrer Regierungs- beziehungsweise Amtszeit lagen die Blütejahre des Vereinigten Königreiches. Über ihren Nachwuchs prägte die „Großmutter Europas“ den Hochadel des europäischen Kontinents, der zu ihrer Zeit noch der bedeutendste war. Die Strenge und der Ernst der glücklich verheirateten, aber früh verwitweten Queen wirkten stilprägend für ihre Zeit. Also nicht ohne Grund trägt das Viktorianische Zeitalter ihren Namen.

Der deutsche Reichskanzler und Ministerpräsident Preußens Otto von Bismarck hat in einer bösartigen, aber sachlich nicht falschen Bemerkung die Coburger als das „Gestüt Europas“ bezeichnet. Victorias Mutter entstammte ebenso diesem „Gestüt“ wie ihr Ehemann und wie ihr Onkel auf dem belgischen Thron, Leopold I., Prinz von Sachsen-Coburg-Saalfeld. Letzterer hatte sich erfolgreich um das Zustandekommen einer Ehe seiner Schwester Vic­toire mit dem vierten Sohn des britischen Königs George III., Prince Edward Augustus, Duke of Kent, bemüht. Am 24. Mai 1819 ging aus dieser Ehe Victoria hervor.

Bereits anderthalb Jahre später starb Victorias Vater. In London war die Witwe mit ihrer Tochter nicht gut gelitten. Ihr Bruder Leopold sorgte dafür, dass sie trotzdem dort blieb. Der als Nachlassverwalter von Victorias Vater fungierende John Conroy sollte erheblichen Einfluss auf Vctorias Mutter und auch auf die Heranwachsende selbst gewinnen. Aufgrund verbreiteter Kinderlosigkeit im britischen Königshaus fiel die Krone mit dem Tod ihres Onkels William IV. am 20. Juni 1837 an Victoria. Aus der Umklammerung durch ihre Mutter, vor allem aber durch Conroy, löste sie sich. An ihrer einstigen Erzieherin, der in Coburg geborenen Baronin Louise Lehzen, hielt sie hingegen als Vertraute fest – bis diese sich 1842 aufgrund von Rivalitäten mit Victorias Ehemann zum Rück­zug gezwungen sah. Als maßgeblicher politischer Mentor Victorias gilt William Lamb, 2. Vis­count Melbourne, der bis 1841 Premierminister war.

Am 10. Februar 1840 fand die Vermählung Victorias mit ihrem Vetter Albert von Sachsen-Coburg und Gotha statt, einem Neffen Leopolds I., der wie bei der Heirat ihrer Eltern auch bei ihrer eigenen kräftig nachgeholfen hat. Albert tat sich anfangs schwer damit, dass ihm kein politischer Gestaltungsspielraum zugedacht war, entwickelte sich aber bald zum engsten Berater seiner Frau und hatte auf diese Weise Anteil an der Regierung. Anerkennung in der britischen Gesellschaft erfuhr er zumindest anfänglich wenig, das Parlament verweigerte ihm den Titel eines Prince Consort (Prinzgemahls), den ihm Victoria schließlich 1857 eigenmächtig verlieh. Alberts Interessen waren vielfältig. Kultur und Wissenschaft widmete er ebenso Aufmerksamkeit wie Landwirtschaft und Gartenbau. Die Londoner Weltausstellung von 1851 ging auf seine Initiative zurück. Sein Engagement er­streck­te sich auch auf den sozialen Bereich, er selbst entwarf Arbeiterwohnungen mit Wasserleitungen. 

Der Tod Alberts am 14. Dezember 1861 im Alter von 42 Jahren bedeutete für Victoria einen tiefen Einschnitt. „Aber wie soll ich, die ich mich in allem und jedem auf ihn stützte … weiterleben, mich bewegen, mir in schwierigen Augenblicken helfen?“, schrieb sie unmittelbar nach seinem Tod. Fortan trug sie Witwenkleidung, in der Öffentlichkeit trat sie nur noch selten auf. Ihre neun Kinder standen ihr deutlich weniger nahe als ihr Mann. Ihrem ältesten Sohn, der als Edward VII. ihr Nachfolger werden sollte, traute sie die ihm zufallende Aufgabe als König nicht zu. Rückhalt erfuhr sie später durch ihren langjährigen Diener John Brown. Die enge Verbindung gab schließlich sogar zu Gerüchten Anlass. 

Insgesamt zehn Premierminister waren unter ihr im Amt. Ein besonderes Verhältnis entwickelte sie zu Benjamin Disraeli, der 1868 und von 1874 bis 1880 die britische Politik leitete. Disraeli, der auch als Romancier bekannt war, fand gegenüber der nicht leicht zugänglichen Königin die richtigen Worte. Beim Berliner Kongress von 1878, auf dem grundlegende Entscheidungen bezüglich Südosteuropas fielen, erzielte er bemerkenswerte Verhandlungsergebnisse für Großbritannien. Er sorgte auch dafür, dass die Queen ab 1876 zusätzlich den Titel „Kaiserin von Indien“ trug. Betreten hat sie die Kolonie zeitlebens nicht, sie ließ sich allerdings Unterricht in den dortigen Sprachen erteilen. 

Weniger gut als zum Konservativen Disraeli war das Verhältnis zum Liberalen William Gladstone. Letzterer war zeitweise abwechselnd mit ersterem und schließlich über insgesamt zwölf Jahre Premierminister. Gladstone stellte die Queen nicht selten vor vollendete Tatsachen, was sie als Affront empfand. 

In Victorias Regierungs- beziehungsweise Amtszeit fielen unter anderem die Hungersnot in Irland (Great Famine, 1845–1849), der Krimkrieg (1853–1856), in dem ihr Land mit Frankreich und dem Osmanischen Reich gegen Russland kämpfte, sowie die beiden Burenkriege (1880/81 beziehungsweise 1899–1902). Für die im Großen und Ganzen äußerst erfolgreiche Außenpolitik, vor allem zum Ende des 19. Jahrhunderts, stehen die Stichworte Splendid isolation und Pax Bri­tannica. Die überragende Geltung des Empire stand außer Frage. An all dem nahm Victoria Anteil, ihre Stimme hatte Gewicht, ihre realen Wirkungsmöglichkeiten waren jedoch begrenzt, auch bedingt durch das politische System und oftmals zu ihrer Unzufriedenheit. Vor allem die ältere Victoria erfreute sich in der Bevölkerung eines hohen Ansehens. Ein sichtbarer Höhepunkt waren die Feierlichkeiten zum Diamantenen Thronjubiläum im Jahr 1897.

Als launisch wurde sie mitunter beschrieben, als Schönheit war sie nicht bekannt. Unmengen von Briefen hat sie verfasst und erhalten. Überliefert ist beispielsweise der Schriftwechsel mit ihrer Tochter Victoria, „Vicky“, die an der Seite ihres Mannes, Friedrichs III., 1888 kurzzeitig Deutsche Kaiserin war. Als die Queen am 22. Januar 1901 starb, war ihr Enkel, Kaiser Wilhelm II., bei ihr. Für seine Großmutter hatte er immer eine besondere Zuneigung empfunden. In Großbritannien wurde es ihm hoch angerechnet, dass er die 200-Jahr-Feier zum Bestehen des Königreichs Preußen abgebrochen hatte, um an ihr Totenbett zu eilen. Den Ersten Weltkrieg zu verhindern, half dies jedoch nicht. Die Hoffnung, dass die nicht zuletzt auf Victoria zurückgehenden engen verwandtschaftlichen Bande zwischen den europäischen Herrscherhäusern ebenso wie die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den europäischen Konzernen einen großen europäischen Krieg verhindern würden, erwies sich bereits knapp eineinhalb Jahrzehnte nach Victorias Tod als unberechtigt.