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24.05.19 / Von Aufbauwillen und Heimischwerden / Das »Projekt Königsberger Straße« zeigt im Freilichtmuseum das Leben im ländlichen Raum der Nachkriegszeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-19 vom 24. Mai 2019

Von Aufbauwillen und Heimischwerden
Das »Projekt Königsberger Straße« zeigt im Freilichtmuseum das Leben im ländlichen Raum der Nachkriegszeit
Jan Heitmann

Wohl in fast jeder deutschen Gemeinde gibt es eine Königsberger Straße. Etwas Besonderes indes ist die Königsberger Straße im niedersächsischen Rosengarten, direkt am südlichen Stadtrand von Hamburg. Sie liegt nämlich auf dem Gelände eines Freilichtmuseums.

Das Projekt „Königsberger Straße. Heimat in der jungen Bundesrepublik“ holt mit insgesamt sechs Gebäuden die Nachkriegszeit von 1945 bis 1979 ins Freilichtmuseum am Kiekeberg. Das Projekt besitzt bundesweite Bedeutung, denn erstmals wird die Kulturgeschichte der Nachkriegszeit in der ländlichen Region erforscht und durch den Aufbau von Häusern und einer umfassenden Ausstellung dargestellt. Viele Menschen aus der Erlebnisgeneration gaben dafür ihr Wissen an die Wissenschaftler weiter und übergaben dem Museum Dokumente und Gegenstände aus der Zeit, von Bauunterlagen, der provisorischen Ersteinrichtung bis zum Fotoalbum.

Das Freilichtmuseum am Kiekeberg erforscht diese Epoche schon seit Jahren. Themen sind unter anderem Siedlungsbau, Flüchtlingsintegration, Anlage von Notgärten, Ausbau der Infrastruktur und das Alltagsleben. Besonderen Wert legen die Museumsleute dabei auf Zeitzeugen und Erklärungen zu hinterlassenen Objekten, Dokumenten und Fotos, um neben dem zeittypischen auch den individuellen Wert der Gegenstände zu erfassen. Vor allem die Großexponate ermöglichen dem Besucher eine eindrucksvolle Begegnung mit der Vergangenheit. So zeigt seit 2007 eine originale Nissenhütte als typische Notunterkunft der damaligen Zeit das ärmliche Leben von Flüchtlingen und Ausgebombten in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Für die Königsberger Straße wählte das Museum typische Gebäude mit aussagekräftigen Geschichten aus, die in gleicher Weise für die gesamtdeutsche Entwicklung stehen: eine Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt, eine Ladenzeile mit sechs Geschäften, ein Siedlungsdoppelhaus, ein Flüchtlingssiedlungshaus, einen Aussiedlerhof, also einen landwirtschaftlichen Betrieb mit hohem Technisierungsgrad außerhalb des Dorfes, und ein von einem Versandhaus vertriebenes Fertighaus als neuen Bautyp, der die damaligen Vorstellungen von modernem Leben zeigt. Das Ensemble wird durch Gärten, Straßenlaternen, eine Litfaßsäule und eine Telefonzelle vervollständigt.

Das Freilichtmuseum am Kiekeberg baut, wenn möglich, Originalgebäude der Region an ihren Standorten ab und bringt sie ins Museum. Beim Siedlungsdoppelhaus und dem Geschäftshaus allerdings stand trotz intensiver Bemühungen kein geeignetes Gebäude für die Verbringung ins Museum zur Verfügung. Für die Königsberger Straße rekonstruiert das Freilichtmuseum deshalb die ursprünglichen Bauten anhand alter Bauzeichnungen.

So entsteht ein typisches Siedlungsdoppelhaus, wie es von Baugenossenschaften und Siedlervereinen in den frühen 1950er Jahren zu Tausenden gebaut wurde, um die Wohnungsnot zu lindern. Die Originalpläne für das Doppelhaus am Kiekeberg stammen von einem Gebäude, das die damalige Wohnungsbaugenossenschaft des Landkreises Harburg im Jahre 1958 im nahen Maschen errichten ließ. Die Wohnverhältnisse sind mit „beengt“ noch äußerst zurückhaltend beschrieben. Es konnten insgesamt vier Familien mit sieben bis acht Personen in jeweils drei Zimmern im Doppelhaus wohnen. Den Keller und den Stall hatten sie in Eigenarbeit zu errichten.

In dem Gebäude wird auf rund 100 Quadratmetern eine Dauerausstellung die Geschichte der Metropolregion Hamburg und damit beispielhaft die Entwicklungen in der Nachkriegszeit in ganz Westdeutschland zeigen – von der Flüchtlingssituation bis zum wirtschaftlichen Aufschwung und den Wechselbezügen mit der Großstadt. Die Themen sind Integration von Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgebombten, Entwicklung zu einem florierenden Wirtschaftsraum, Kommunalpolitik und Mobilität und Heimat. Das Richtfest des Siedlungsdoppelhauses wurde im März begangen, nach der umfangreichen Einrichtung der Ausstellung wird es voraussichtlich im Mai 2020 eröffnet.

Das in das Freilichtmuseum versetzte Flüchtlingssiedlungshaus ist ein typischer Vertreter des anderthalbgeschossigen Gebäudetyps mit kleinem Viehstall und Selbstversorgergarten, der die nach 1948 am Rande vieler Dörfer entstandenen unzähligen Neubausiedlungen für Flüchtlinge und Ausgebombte prägte. In der Königsberger Straße am Kiekeberg steht es für die Linderung der Wohnungsnot sowie ein erstes „Heimischwerden“ durch den Aufbau einer neuen Existenz. In den Räumen wird eine authentische Wohnsituation der aus Ostpreußen stammenden Bewohnerfamilie dargestellt werden. Neben dem Wohngebäude wird ein Stallgebäude mit einer Sommerküche und Räucherkammer rekonstruiert.

Warum gerade der Landkreis Harburg besonders geeignet ist, exemplarisch für das Thema zu stehen, erläutert Landrat Rainer Rempe: „Seine Bevölkerungszahl hat sich bis heute mehrfach verdoppelt, allein von 1945 bis 1955 wuchs die Zahl von 62602 auf 124397 Menschen an.“ Die Neubürger brachten neues Fachwissen und einen starken Aufbauwillen mit, sie bereicherten mit anderen Traditionen und Gewohnheiten das Dorfleben. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war somit für den ländlichen Raum ein gravierender Einschnitt. „Heute können wir anhand der Geschichte unseres Landkreises die Leistungen der Aufbau-Generation würdigen und Besuchern darstellen“, so Rempe weiter. „In den Dörfern zeigen sich die großen Veränderungen in der Nachkriegszeit im Kleinen. Es gibt beim Bauen und Wohnen, aber auch im gesellschaftlichen Leben große Umbrüche, die teilweise bis heute den Alltag und das Erscheinungsbild von Dörfern in ganz Deutschland und die Beziehungen zu nahen Großstädten prägen“, ergänzt Museumsdirektor Stefan Zimmermann. Es sei den Initiatoren ein großes Anliegen, den Besuchern diese „dynamische und auch widersprüchliche Zeit“ nahezubringen und ihnen zu zeigen, wie sehr die damaligen Aufbauleistungen auch ihr Leben beeinflussen.

Dass das Projekt eine herausragende museale Bedeutung weit über die Grenzen der Region und des Landes Niedersachsen hinaus besitzt, hat man auch in Berlin erkannt. Deshalb beteiligt sich die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien mit 3,84 Millionen Euro an den Kosten. Weitere Förderer sind das Land Niedersachsen, der Landkreis Harburg, der Förderfonds Hamburg/Niedersachsen der Metropolregion Hamburg, die Stiftung Niedersachsen, die Stiftung Hof Schlüter, die Niedersächsische Sparkassenstiftung, die Stiftung der Sparkasse Harburg-Buxtehude, der Lüneburgische Landschaftsverband, die Klosterkammer Hannover, die Niedersächsische Bingo-Umweltstiftung und der Förderverein des Freilichtmuseums am Kiekeberg. Das Gesamtprojekt ist auf 6,14 Millionen Euro angelegt.

Nach deren Fertigstellung präsentiert das Freilichtmuseum am Kiekeberg mit der Königsberger Straße ein Ensemble, das typisch für das Leben in der Nachkriegszeit ist und bis heute das Erscheinungsbild von Dörfern in ganz (West-)Deutschland prägt. Neben den Gebäuden und der Ausstellung im Siedlungshaus werden Führungen, Mitmach-Aktionen und andere Begleitprogramme den Alltag auf dem Dorf zu der Zeit und dessen Wandel erfahrbar machen.