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31.05.19 / Die größte Selbstversenkung aller Zeiten / Vor 100 Jahren wurde Scapa Flow zum Grab der deutschen Hochseeflotte – An Reuters Entscheidung scheiden sich die Geister

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-19 vom 31. Mai 2019

Die größte Selbstversenkung aller Zeiten
Vor 100 Jahren wurde Scapa Flow zum Grab der deutschen Hochseeflotte – An Reuters Entscheidung scheiden sich die Geister
Erik Lommatzsch

Für die einen wurde mit der Selbstversenkung vom 21. Juni 1919 die Ehre der deutschen Marine nach der als Schmach empfundenen Novemberrevolution wie­der­hergestellt. Kritiker hingegen verwiesen darauf, dass die Kriegsgegner sich auf Deutschlands Kosten schadlos hielten, indem sie das Reich dazu zwangen, zur Kompensation andere Schiffe und Hafenmaterial auszuliefern. 

Der Artikel 23 des am 11. November 1918 geschlossenen Waffenstillstands von Compiègne zwischen Deutschland auf der einen sowie Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite beginnt mit den Worten: „Die Kriegsschiffe der deutschen Hochseeflotte, welche die Alliierten und die Vereinigten Staaten bezeichnen, werden sofort abgerüstet und ... interniert. Die Häfen werden von den Alliierten und den Vereinigten Staaten bezeichnet werden. Sie bleiben dort unter der Überwachung der Alliierten und der Vereinigten Staaten; es werden nur Wachkommandos an Bord belassen. Die Bezeichnung der Alliierten erstreckt sich auf: 6 Panzerkreuzer, 10 Linienschiffe, 8 kleine Kreuzer (davon 2 Minenleger), 50 Zerstörer der neuesten Typen … Alle zur Internierung bezeichneten Schiffe müssen bereit sein, die deutschen Häfen sieben Tage nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes zu verlassen. Die Reiseroute wird ihnen durch Funkspruch vorgeschrieben.“

Dementsprechend befand sich ab dem 27. November 1918 das Gros der deutschen Hochseeflotte im entwaffneten Zustand in der Bucht von Scapa Flow unter Aufsicht der Briten. Die unter Wilhelm II. hochgerüstete Marine hatte im Krieg entgegen vorherigen Erwartungen kaum eine bestimmende Rolle gespielt. In der berühmten Skagerrakschlacht von 1916 zeigte sie zwar ihre Stärke, konnte aber keine Entscheidung herbeiführen. Anfänglich war noch unklar, was nach einem Friedensschluss mit dem einstigen Stolz des Kaisers passieren würde, und es bestand deutscherseits die Hoffnung, wenigstens einen Teil der internierten Schiffe behalten zu dürfen. Am 7. Mai wurde der deutschen Delegation jedoch der Friedensvertragsentwurf vorgelegt, in dem es desillusionierend hieß: „Mit Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags verliert Deutschland das Eigentum an allen deutschen Überwasserkriegsschiffen, die sich außerhalb der deutschen Häfen befinden. Deutschland verzichtet auf alle Rechte an den genannten Schiffen. Schiffe, die in Ausführung der Bestimmungen des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 zur Zeit in den Häfen der alliierten und assoziierten Mächte interniert sind, werden für endgültig ausgeliefert erklärt.“ Für den Fall, dass die Deutschen nicht unterzeichnen sollten, drohten die Kriegssieger am 16. Juni 1919 ultimativ mit einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen. 

Der Befehlshaber der in Scapa Flow internierten deutschen Flotte, Konteradmiral Ludwig von Reuter, erfuhr von diesem Ultimatum aus einer Pressemeldung, die ihm am Morgen des 21. Juni vorlag. Das war der Tag des Ultimatumsablaufs. Zum ersten hielt er eine kampflose Übergabe der Flotte für ehrlos. Zum zweiten wollte er verhindern, dass bei der von den Kriegsgegnern angedrohten Wie­der­aufnahme der Kampfhandlungen seine Schiffe gegen sein Land eingesetzt werden konnten. Und zum dritten gab es einen kaiserlichen Befehl, gemäß dem kein Schiff in Feindeshand fallen durfte. 

Vorbereitungen waren bereits getroffen worden, als Reuter gegen 11 Uhr per Flaggensignal den codierten Befehl zur Selbstversenkung erteilte. Die entsprechende Anweisung lautete: „Paragraf elf bestätigen. Chef Internierungsverband“. „Paragraf elf“ bezog sich auf das studentische Biercomment, dahinter verbirgt sich die Anweisung: „Es wird fortgesoffen“. Weniger entspannt als bei Verbindungsvergnügungen, aber mit nicht weniger Enthusiasmus ging es vor den Augen der überraschten Briten an diesem Tag in der schottischen Bucht zu. Eingeweiht waren aufgrund der Geheimhaltung im Vorfeld nur wenige. Die Mannschaften zeigten sich jedoch äußerst angetan. Laut dem Versenkungsbericht des Flaggschiffs des Verbandsbefehlshabers, des Kleinen Kreuzers „Emden“, herrschte nach der Verkündung des Vorhabens erst „lautlose Stille, dann aber durchbrauste ein Sturm der Begeisterung die Gefühle, und leuchtenden Auges (angesichts) eines solch ehrenvollen Endes unserer Flotte ging es an die Lösung der Aufgabe“. Und im Bericht des letzten Großkampfschiffs, das sank, des Großen Kreuzer (Schlachtkreuzer) „Hindenburg“, hieß es: „nirgends verzagte Gesichter“.

Erfolglos versuchten britische Wachen, nachdem ihnen die Situation klar geworden war, die Deutschen von ihrem Tun abzuhalten. Von den insgesamt 74 Schiffen waren am späten Nachmittag die meisten versenkt, ein geringerer Teil auf Grund gesetzt. Es handelte sich um die größte Selbstversenkung in der Geschichte der Seefahrt. Da die Schiffe entwaffnet waren, hatte sich das Ganze ohne Sprengstoff vollzogen. Genutzt wurden alle Möglichkeiten, Wasser einströmen zu lassen – durch die Öffnung von Ventilen, Torpedorohren, Bullaugen und so weiter. 

Ertrunken ist bei der Aktion von den Besatzungen, die auf den Schiffen stationiert waren, nicht ein Einziger. Aber acht Matrosen und ein Korvettenkapitän kamen durch britische Kugeln zu Tode. Sie gelten als die letzten Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Die knapp 2000 sicher an Land gelangten deutschen Marienangehörigen wurden zunächst festgesetzt. Anfang 1920 kehrten sie in die Heimat zurück. 

Laut Andreas Krause, der 1999 eine ausführliche Darstellung der Vorgänge veröffentlicht hat, kann man das Verhalten Reuters sowohl als zivilen Ungehorsam – es kamen von deutscher Seite keine Waffen zum Einsatz – bewerten, allerdings ebenso als Anachronismus, folgte Reuter doch auch einem Befehl des abgedankten Kaisers. Krause äußert die Vermutung, die Briten hätten von der geplanten Selbstversenkung gewusst, sie aber nicht wirklich verhindert, da sie ihnen kurioserweise zupass gekommen sei. Denn ohne die Selbstversenkung wäre die Flotte wohl unter den Siegern in einer Weise verteilt worden, von der andere wesentlich mehr profitiert hätten.