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07.06.19 / Das Jahr der Wunder / Für das kollektive Gedächtnis spielen die Deutschen 1989 schon keine Rolle mehr

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-19 vom 07. Juni 2019

Das Jahr der Wunder
Für das kollektive Gedächtnis spielen die Deutschen 1989 schon keine Rolle mehr
Chris W. Wagner

Der Juni 1989 hatte es polenweit in sich: Die Parlamentswahl – wenn auch noch nicht ganz demokratisch – brachte einen Prozess in Gang, der nicht mehr zu stoppen war. Der Kommunismus bröckelte und zerbrach schließlich, Polen erlangte seine Freiheit wieder. Auch die Deutschen in Polen machten bei den Umbrüchen mit. Am 4. Juni 1989 feierten deutsche Katholiken auf dem St. Annaberg die erste dortige deutschsprachige Messe seit 1945.

Dreißig Jahre später wurde am 29. Mai im oberschlesischen Gleiwitz das polnischsprachige Internetportal „Gleiwitzer Opposition 1945–1990“ freigeschaltet. Es ist „einem breit verstandenen gesellschaftlichen Widerstand und den Aktivisten unterschiedlicher sozialer Kreise gewidmet, die unter dem kommunistischen Regime gelitten haben“, so die Macher des Portals. Zusätzlich wurde einen Tag darauf auf dem Gleiwitzer Ring eine Ausstellung eröffnet, die sich mit der Demontage des kommunistischen Systems auseinandersetzt. Die Präsentation wurde vom Gleiwitzer Museum in Zusammenarbeit mit dem Kattowitzer Institut für Nationales Gedenken konzipiert und kann bis zum 1. Juli besichtigt werden. 16 Schautafeln zeigen neben Texten Wahlplakate, Handzettel und Fotografien aus Privatsammlungen und Staatsarchiven sowie Archiven von Museen und Verbänden. Die Ausstellung ruft die polenweite Wirtschaftskrise der 80er Jahre und die Streiks von 1988 in Erinnerung. Einen wichtigen Platz nehmen auch die „Runder-Tisch-Gespräche“ ein, die in der Übergangsphase vom Kommunismus zur Demokratie zwischen Februar und April 1989 in Warschau stattfanden und Ver-

treter der regierenden Polni-schen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), der oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc und der katholischen Kirche an einem Tisch versammelte. Zu den explizit Gleiwitzer Akzenten zählen Fotos von der Kundgebung der Gleiwitz-Hindenburger Solidarnosc vom 28. Mai 1989, an der der aus Italien stammende französische Schauspieler und Sänger Yves Montand teilnahm. Montand, einst Anhänger der Kommunistischen Partei Frankreichs, wurde in den 80er Jahren zum Kritiker der Sozialisten.

Das Gleiwitzer Museum startet zusätzlich zur Ausstellung eine Reihe von Veranstaltungen, die das Portal „Gleiwitzer Oposition 1945-1990“ bewerben soll. Unter dem Motto: „Nenne mir deine Geschichte: Juni ‘89“ sollen Jugendliche an Schulungen teilnehmen und anhand von Zeitzeugenberichten die Ereignisse des „Jahres der Wunder“ erfahren. Hierbei wäre das Mitwirken des Gleiwitzer Hauses der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, wenn nicht gar der sozial-kulturellen Gesellschaft der Deutschen wünschenswert. Schließlich leben in Gleiwitz und Umgebung noch Gründerväter der deutschen Freundschaftskreise und Zeitzeugen der Untergrundaktivitäten, die zu Anerkennung der deutschen Volksgruppe führten. Hier wäre der Gleiwitzer Friedrich Schikora zu nennen, der seinen angesehenen Posten als Ingenieur aufs Spiel setzte und zusammen mit Georg Brylka, Karl Nossol, Henryk Kroll, dem Sohn des Gründervaters der deutschen Gesellschaften Johann Kroll, und Dietmar Brehmer 1991 den Zentralrat der Deutschen in Polen gründete. Auch Blasius Hanczuch aus dem nahen Benkowitz gehört zu den „Männern des Wunderjahres 1989“. Der Tischlermeister strebte nie nach einem besseren Leben im Westen, er wollte seiner Heimat dienen: „Meine Identität ist die Geschichte meiner Heimat. Es zählt nicht die Staatsangehörigkeit, denn diese kann man recht einfach erlangen. Wie man fühlt, das ist für mich ein Heiligtum“, so Hanczuch, der in Benkowitz das St.-Elisabeth-Stift sanierte und zur Begegnungsstätte umgestaltete. Dort hat er eine Heimatstube und ein archäologisches Museum einrichtet. Er arbeitet gerne mit Jugendlichen und Kindern und bringt ihnen die Geschichte seiner Heimat bei: „Ein Volk, dass seine Geschichte nicht kennt, stirbt aus. Deshalb habe ich in unserem Verband der Deutschen eine Geschichtswerkstadt gegründet“. Blasius Hanczuch erinnert sich gerne an 1989, auch wenn es gefährlich war, sich zum Deutschtum zu bekennen. So konnte man den Drang nach Freiheit deutlich spüren. „Ich gehörte zu denen, die die Bekenntnis-Unterschriften gesammelt haben. Wir bereisten die Umgebung und  Rauden [Rudy], zum Beispiel habe ich einige Chorkollegen mitgenommen und meine Gitarre, die ich selbst gebaut habe. Wir haben in der Mitte der Ortschaft auf einem Baumstamm deutsche Volkslieder gesungen. Und auf einmal sammelten sich viele Menschen um uns herum. Mit Musik haben wir die meisten Leute angezogen“, erinnert sich Hanczuch. Mit Mitstreitern richtete er jeden Freitagabend seine Tischlerei zu einem Chorprobesaal um. „Und obwohl alles geheim war, kamen Leute bis von Kattowitz zu uns. Viele riskierten, ihre Arbeit zu verlieren. Ich konnte es mir 

leisten, ich war selbstständig“, so Zeitzeuge Hanczuch. Doch die komplette Geschichte der verbliebenen Deutschen der Wendezeit bleibt beim offiziellen Gedenken in der nahen Großstadt außen vor.