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14.06.19 / Originalquellen gegen mikroverfilmte Kopien / Vor 25 Jahren übergaben die USA der Bundesrepublik das Berlin Document Center mit der NSDAP-Mitgliedskartei

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-19 vom 14. Juni 2019

Originalquellen gegen mikroverfilmte Kopien
Vor 25 Jahren übergaben die USA der Bundesrepublik das Berlin Document Center mit der NSDAP-Mitgliedskartei
Wolfgang Kaufmann

Vor 25 Jahren übergaben die USA das gesammelte Aktenmaterial aus der Zeit des Nationalsozialismus, das im Berlin Document Center lagerte, an das deutsche Bundesarchiv. Anlass hierfür war vor allem ein handfester Skandal um zehntausende gestohlene Originalschriftstücke. 

Angesichts des nahenden Kriegs­endes sollte die Mitgliederkartei der NSDAP Mitte April 1945 in der Josef Wirth Papier-, Pappen- und Wellpappenfabrik in München-Freimann vernichtet werden. Allerdings verzögerte der Geschäftsführer des Unternehmens, Hanns Huber, die Ausführung des Auftrags bis zum Eintreffen der US-Besatzungstruppen. Diese taten sich zunächst recht schwer damit, die Bedeutung des quasi auf dem Silbertablett präsentierten Datenschatzes zu erkennen, überführten ihn dann aber schließlich doch im Januar 1946 in das 6889. (später 7771.) Document Center in Berlin-Zehlendorf. Dort bildete die noch zu neun Zehntel erhaltene NSDAP-Zentralkartei mit ihren 10,7 Millionen Karteikarten den Grundstock einer gigantischen Sammlung von Originalakten aus der NS-Zeit. Hierzu gehörten insbesondere auch rund 400000 sichergestellte Personalunterlagen von SS- und SA-Angehörigen sowie 238600 ausgefüllte Fragebögen des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS. Alles in allem trugen die Dokumentenjäger der Abteilung G-2 der US-Besatzungstruppen 140 Millionen Blatt Papier mit Informationen über 15 Millionen Deutsche und einem Gesamtgewicht von 400 Tonnen zusammen. Für deren Aufbewahrung waren rund 8,5 Regalkilometer nötig.

Zum 1. Oktober 1953 ging dieser Aktenbestand offiziell in den Besitz der Regierung der Vereinigten Staaten über – seither trug das Archiv die Bezeichnung Berlin Document Center (BDC) und unterstand dem Außenministerium in Washington. Das wollte sich jedoch 1967 des BDC entledigen. Hieraus resultierte ein ebenso konkretes wie ernstgemeintes Angebot an die Bundesrepublik, das Konvolut an NS-Dokumenten zu übernehmen. Einzige Bedingung war dabei, dass die Deutschen den kompletten Bestand für die Amerikaner auf Mikrofilm kopierten. Trotzdem sträubte sich die Bundesregierung noch mehr als zwei Jahrzehnte gegen die Annahme des papiernen Erbes des Dritten Reiches. Das nährte natürlich Gerüchte, Bonn wolle Angehörige der bundesdeutschen Elite mit NS-Vergangenheit schützen, denn nach einer Übergabe des BDC an Deutschland wäre der Zugang zu den Akten für Historiker und Journalisten deutlich unkomplizierter geworden. Und tatsächlich hätte man bei einem früheren Eigen­tümerwechsel unter anderem wohl schon deutlich vor 1994 die NSDAP-Mitgliedschaft des langjährigen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) aufgedeckt. 

Während sich die Angelegenheit also mit äußerster Zähigkeit hinzog, ging im August 1982 eine Anzeige bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein, dass aus dem Document Center entwendete Schriftstücke in Militaria-Sammlerkreisen kursierten. Dabei handelte es sich zumeist um Papiere, die niemals in die Hände von Besuchern gelangt waren, was den logischen Schluss nahelegte, die Diebe unter den Mitarbeitern des Archivs zu suchen. Doch genau das unterblieb geschlagene fünf Jahre lang, bis dann endlich 1987 rund 1000 Seiten aus dem BDC 

im Hanseatischen Auktionshaus Hamburg beschlagnahmt werden konnten. Hierdurch stolperten die Behörden zwangsläufig über den Haupttäter Alfred Darko, seines Zeichens Leiter der Reproduktionsabteilung des Document Center, der mehrere zehntausend Blatt Aktenmaterial aus dem Archiv hinausgeschmuggelt und verhökert hatte. Im Prozess gegen ihn und seine deutschen Hehler Herbert Borrmann und Henry Berger kam zutage, welch unglaubliche Zustände im BDC herrschten. Weder konnten die Amerikaner sagen, was alles fehlte, weil keinerlei systematische Inventarisierung erfolgt war, noch hatte man je Taschenkontrollen bei den Mitarbeitern durchgeführt. 

Darüber hinaus sagte Darko aus, der Direktor des BDC, Daniel Simon, und weitere amerikanische Führungskräfte hätten ihn zu den Diebstählen angestiftet. Diesen Vorwürfen ging die deutsche Justiz jedoch aus politischen Rück­sichten niemals nach. Andererseits erscholl nun aber seitens des Deutschen Bundestages der Ruf nach einer unverzüglichen Übertragung des Archivs in deutsche Hände. Dies erforderte freilich das energische Vorantreiben der bis dahin extrem zögerlich durchgeführten Mikroverfilmung der Akten. Dennoch dauerte selbige noch bis 1994, weil in ihrem Rahmen über 50 Millionen Aufnahmen gemacht werden mussten.

Währenddessen meldeten sich Vertreter des Jüdischen Weltkongresses (WJC) zu Wort und protestierten lauthals gegen die Absicht, den Deutschen die Originalakten zukommen zu lassen. Der geschäftsführende Direktor des WJC von 1986 bis 2004, Elan Steinberg, intervenierte 1990 und 1993 sogar bei den US-Präsidenten George H. W. Bush und Bill Clinton, blieb aber letztlich ohne Gehör. Am 18. Oktober 1993 unterzeichneten deutsche und amerikanische Regierungsvertreter in den Räumen des BDC das „Abkommen über die Übergabe des Berlin Document Center“ in die Verwaltung des Bundesarchivs.

Die praktische Umsetzung der Vereinbarung erfolgte dann ein reichliches halbes Jahr später. In den späten Abendstunden des 30. Juni 1994 holten US-Militärpolizisten das Sternenbanner auf dem Gelände des BDC ein, wonach David Marwell, der Nachfolger des inzwischen geschassten Simon, die Dienststelle als letzter Amerikaner verließ. Und am Morgen des Folgetages wiederum schraubte dann der damalige Präsident des Bundesarchivs, Fried­rich Kahlenberg, ein Schild mit der Aufschrift „Bundesarchiv-Außenstelle Berlin-Zehlendorf“ am Eingangstor an. Die „Washington Post“ kommentierte diesen Vorgang mit den euphorischen Worten, er sei „ein Meilenstein in der Wiederherstellung deutscher Souveränität“. Tatsächlich jedoch kontrollierte ein von der US-Regierung eingesetzter „Vertrauensbeauftragter“ namens Jock Covey das BDC weiterhin aus dem Hintergrund – er besaß unter anderem Vetorecht, was den Umgang mit den Akten betraf.

1996 wanderten die übernommenen Bestände ins Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Seitdem werden sie intensiv für die Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus genutzt. Dabei denken aber wohl nur die wenigsten Historiker daran, wie leicht es bis 1987 war, Dokumente aus dem Archiv herauszuschmuggeln, und dass es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dass das eine oder andere Papier den umgekehrten Weg gegangen ist und nun als „Originalquelle“ dient.