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14.06.19 / Das erste, das auch funktionierte / Vor 80 Jahren absolvierte das Raketenflugzeug Heinkel He 176 seinen Erstflug

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-19 vom 14. Juni 2019

Das erste, das auch funktionierte
Vor 80 Jahren absolvierte das Raketenflugzeug Heinkel He 176 seinen Erstflug
Friedrich List

Raketenflugzeuge führen ein Nischendasein in der Luftfahrt, obwohl sich Flugpioniere frühzeitig für sie interessierten. Der Raketenantrieb versprach nicht nur hohe Geschwindigkeiten, sondern auch hohe Beschleunigung und beeindruckende Steig­leistungen. Das erste funktionierende Raketenflugzeug der Welt, die Heinkel He 176 flog am 20. Juni 1939 zum ersten Mal. 

Bis zu diesem Erstflug vor 80 Jahren war es indes ein langer Weg. Schon in den 20er Jahren des vorherigen Jahrhunderts untersuchte der deutsche Konstrukteur Alexander Lippisch, ob ein derartiger Antrieb brauchbar war. Er baute 1929 das erste Flugzeug mit einem Raketentriebwerk. Die „Ente“ wurde von zwei Pulverraketen angetrieben und flog am 11. Juni 1928 erstmals, allerdings nicht besonders weit. Der erste Startversuch schlug fehl. Beim zweiten Startversuch gelang ein Hüpfer von eineinhalb Kilometern Länge. Der dritte endete mit der Explosion einer Rakete. Dem Testpiloten Fritz Stamer gelang es trotzdem, sicher zu landen und sich in Sicherheit zu bringen, bevor das Flugzeug am Boden ausbrannte. 

Feststoffraketen haben einen gravierenden Nachteil. Ihr Schub ist nicht regelbar. Einmal gezündet, brennen sie ab, egal wie die Flugsituation ist. Deswegen wandten sich die Flugzeugkonstrukteure den Flüssigkeitsraketen zu. 

Ernst Heinkel wollte mit einem neuen Flugzeug die magische Geschwindigkeitsgrenze von 1000 Kilometern pro Stunde angreifen. Das Reichsluftfahrtministerium (RLM) beauftragte Heinkel 1936 mit der Entwicklung der He 176. Entwicklungsarbeiten und Bau des Raketenflugzeugs wurden sorgfältig vor der Öffentlichkeit abgeschirmt.

Heinkel sollte vier Versuchsmuster bauen. Sie waren als reine Experimentalflugzeuge ohne jede militärische Ausrüstung geplant. Mit ihnen wollten die Verantwortlichen Hochgeschwindigkeitsflüge durchführen. Die Vorarbeiten begannen im Dezember 1936, die eigentliche Konstruktion folgte ab Juli 1937. 

Anfangs waren zwei Triebwerke vorgesehen. Der R-102-Raketenmotor des Heereswaffenamtes benutzte Alkohol und Flüssigsauerstoff. Entwickelt hatte ihn die Konstruktionsgruppe um Wernher von Braun, der später auch den Bau des Aggregats 4 (Vergeltungswaffe 2) und dessen Vorgänger verantworten sollte. Dagegen arbeitete das Triebwerk der Firma Walter aus Kiel mit einer Wasserstoff-Superoxid-Lösung und entweder Kalziumpermanganat oder Natriumpermanganat als Katalysator. Der Katalysator erzeugte bei der Zersetzung der Wasserstoff-Superoxid-Lösung einen heißen Schubstrahl aus Wasserdampf und Sauerstoff. 

Das Walter-Triebwerk wurde ab dem Frühjahr 1937 erprobt. Das geschah zunächst in einer Heinkel He 72, einem Doppeldecker und anschließend in einem Trainingsflugzeug vom Typ Focke-Wulf Fw 56 „Stößer“. Wegen Schwierigkeiten mit dem R-102 konzentrierten sich Heinkel und das RLM auf die Heinkel 

He 176 V-1 mit dem Walter-Triebwerk. Das R-102 hätte dann die He 176 V-2 antreiben sollen. Als das Walter-Triebwerk für die He 176 fertig war, baute man es zunächst in einen der He-112-Prototypen ein, die Heinkel nach seiner vergeblichen Bewerbung um den Auftrag für das Standardjagdflugzeug der Luftwaffe übrig hatte. 

Dabei war die He 176 V-1 bereits früher fertig als ihr Triebwerk. Im Juli 1938 wurde sie unter strenger Geheimhaltung im Windkanal der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen vermessen. Das Flugzeug war ein kleiner Mitteldecker mit Einziehfahrwerk. Der Pilot saß in halbliegender Position in der verglasten Rumpfspitze. Je nach Quelle lag die Rumpf­länge bei 5,2 oder 6,2 Metern, die Flügelspannweite bei fünf Metern. Die Höchstgeschwindigkeit lag wahrscheinlich bei 750 Kilometern pro Stunde, ist aber nicht belegt. Die Rumpfspitze war als Rettungskapsel konstruiert und konnte abgesprengt werden. Ein kleiner Fallschirm stabilisierte die Kapsel. Dann konnte der Pilot die Kabinenhaube abwerfen und seinerseits mit dem Fallschirm abspringen. 

Im Herbst 1938 begannen die Rollversuche in Peenemünde-West. Sie gestalteten sich mühsam, weil das Flugzeug im Schlepp eines schweren Personenkraftwagens kaum auf 100 Kilometer in der Stunde kam. Die Grasnarbe des Flugplatzes bremste zu stark. Am Strand von Usedom lief es nicht besser. Das Flugzeug war zu langsam, um irgendeine Ruderwirkung zu erzielen. Also musste Flugkapitän Erich Warsitz das Flugzeug mit kurzen Schubstößen bewegen. Um Bug und Tragflächen zu schützen, erhielt die Maschine ein provisorisches Bugrad und Schutzbügel unter den Tragflächen. Die Kabine ließ man offen, sodass die einzigen erhaltenen Fotos der He 176 ein sehr merkwürdiges Fluggerät zeigen. Vor dem eigentlichen Erstflug am 15. Juni 1939 machte Warsitz mit der He 176 eine Reihe von Luftsprüngen über rund 100 Meter Distanz. Am 15. Juni selbst flog er mit der Maschine eine Platzrunde. Danach sollten die Flugversuche eigentlich fortgesetzt werden, aber es kam nur noch zu Vorführungsflügen vor hohen Luftwaffenoffizieren und Adolf Hitler selbst. 

Die Arbeiten wurden bei Kriegsausbruch eingestellt, die im Bau befindlichen anderen Maschinen verschrottet. Die He 176 V-1 sollte im Berliner Luftfahrtmuseum ausgestellt werden und wurde dort 1943 bei einem Bombenangriff zerstört. Auch die meisten Unterlagen über das Flugzeug gingen verloren.