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14.06.19 / Eine Pistole für einen Drahtesel / Mit dem Liegerad 3000 Kilometer durch die USA – Eine Strampelei auf die Gefahr hin, sich eine blutige Nase zu holen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-19 vom 14. Juni 2019

Eine Pistole für einen Drahtesel
Mit dem Liegerad 3000 Kilometer durch die USA – Eine Strampelei auf die Gefahr hin, sich eine blutige Nase zu holen

Auf die Idee kann nur ein Deutscher kommen: Mit einem Liegefahrrad durch die USA zu radeln. Hier berichtet unser Autor Thomas Bauer von seinen Abenteuern am Mississippi.

Auf einmal stand er vor mir. Ich hatte gerade das Motel verlassen und wollte am Gebäude entlangfahren, da hob er die Hand und rief: „Hey du, anhalten!“ Vor Überraschung trat ich sofort auf die Bremse. Der Kerl ragte hünenhaft vor mir auf. Sein sonnenverbranntes Gesicht ließ nicht erkennen, von welcher Farbe es einst gewesen sein mochte, aber seine wilden, leicht rötlichen Locken deuteten auf eine irische Abstammung hin. 

Gebannt starrte der Riese auf das Gefährt, in dem ich saß. Ich konnte es ihm nicht verübeln: Ein Liegerad bekam man nicht alle Tage zu sehen, vor allem nicht in diesem Teil der Welt, wo man selbst bis zum Laden auf der anderen Straßenseite das Auto nahm. Doch da war ich nun einmal, in einer drei Meter langen Eigenkonstruktion, die aussah wie ein erstarrtes Insekt. Natürlich musste das genauer untersucht werden.

„Was ist das denn für ein seltsames Ding?“, wollte der Muskelprotz wissen. Zumindest glaubte ich das zu verstehen. Sicher konnte ich mir da nicht sein. Seit ich in den Südstaaten unterwegs war, verstand ich so gut wie nichts mehr von dem, was mir die Leute sagen wollten. Schon gar nicht hier, im ländlichen Arkansas, in einem zwielichtigen Nest namens Osceola. Das war kein Akzent mehr, das war eine andere Sprache! Die Vokale wurden gedehnt, bis es ihnen wehtun musste. 

Mein Gegenüber griff mit routinierter Selbstverständlichkeit in die rechte Backentasche seiner verwaschenen Jeans und zog eine Pistole hervor. Was hatte mich nur geritten, dachte ich, mit einem so auffälligen Fahrzeug durch ein derart raues Land zu ziehen?

Schon der Anfang meiner USA-Tour hatte es in sich gehabt. In Bemidji, wo der Mississippi entspringt, knirschten Schnee und Eis unter den Rädern des Velomobils. Die Bewohner Bemidjis sa­gen, dass es in manchen Wintern derart kalt werde, dass die Worte in der Luft gefrören, ehe sie das Ohr eines Empfängers erreichten. Im Frühjahr tauten sie dann auf, und ein Gemurmel erfülle die Luft. In dieser Stadt nahe der kanadischen Grenze leben vor allem Naturburschen mit massigen Schädeln und breitem Kreuz. Sie wohnen drei Schritte von der Durchgangsstraße entfernt in Häusern, die an Dixi-Toiletten erinnern. Vielleicht stehen darum neben den Gebäuden Autos, die ungefähr dieselbe Größe haben wie die Häuser. Wenn es hart auf hart kommt, kann man einfach davonfahren. 

Hier entspringt er, der amerikanischste aller Flüsse. Ohne den Mississippi sind die Vereinigten Staaten nicht denkbar. Hier brachen Lewis und Clark auf, um erstmals zur Westküste des Landes zu gelangen. Sie ermöglichten dadurch die Gründung einer „mächtigen Nation zwischen Atlantik und Pazifik“, wie sie der damalige Präsident Thomas Jefferson gefordert hatte. Kurz darauf begann die goldene Ära der Dampfschifffahrt. Erlebnishungrige Ladies und streitlustige Gentlemen fuhren stromauf- und stromabwärts. Zu ihrem Zeitvertreib erfand man auf einem der Raddampfer das Pokerspiel und später auch das Wasserskifahren.

Wahrscheinlich war ich darum hier unterwegs: um die Überbleibsel jenes so abenteuerdurchwebten und lebenshungrigen Amerikas aufzusammeln. Mein Velomobil sollte mir dabei gute Dienste leisten. Jemanden in einem solchen Dreirad will man kennenlernen.

Auf den letzten Meilen wurde Minnesota schön. Angeberisch spannte es einen Himmel über mir auf, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er erinnerte an einen Ozean. In Hochstimmung fuhr ich in Red Wing ein. Das Dorf ist bekannt für die gleichnamigen Schuhe, die dort hergestellt werden: globige Treter, mit denen man Bisons nachstellen und Grizzlybären ernsthaft verletzen kann. Im Schuhmuseum wird der Brief eines Arztes ausgestellt, der Mittel gegen Schlangengifte herstellt. Auf einem Bild sieht man ihn inmitten von Klapperschlangen; eine beißt soeben in seinen Schuh. Das passiere zwölf Mal am Tag, schreibt der Doktor, und noch nie sei es einer Schlange gelungen, das Futter des Red-Wing-Schuhs zu durchstoßen.  

Der Fluss hatte sich verändert. Wo er Wisconsin und Iowa voneinander trennt, hält den Mississippi nichts mehr auf. Er hat hunderte Flüsse in sich aufgenommen, aus allen Begegnungen ist er als Sieger hervorgegangen. Von hier an ist er ein einziges Ausrufezeichen, mit dem Golf von Mexiko als Endpunkt. 

Ich begann zu begreifen, dass der Strom unablässig Geschichten erzählt. Diese sind es, die ihm Kraft verleihen. Er muss sie erst aufsammeln unterwegs, muss sie aus den vergangenen Jahrhunderten pflücken. Der Mississippi er­zählt, wenn man genau hinhört: Er berichtet davon, wie erste Brücken gebaut wurden, Holzfabriken entstanden, Raddampfer auf Grund liefen und mächtige Eisenbahnen am Ufer entlangstrichen. Er weiß, dass nichts konstant ist außer dem ewigen Wandel. Gibt es ein besseres Sinnbild für das, was unser Leben ausmacht, als einen solchen Fluss? Der Mississippi erzählt unentwegt die verrückte und unwahrscheinliche, die brutale und kompromisslose Erfolgsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

Dass ich wirklich angekommen war im echten, tiefen Amerika, wurde mir spätestens klar, als ich in Osceola auf den waffenschwingenden Muskelprotz traf. 

Das war’s also, dachte ich. Jetzt würde mich der Kraftmeier zwingen, ihm das Liegerad zu überlassen. Vielleicht vermutete er Wertvolles in meinem Gepäck oder meinte, die Einzelteile meines Gefährts verkaufen zu können. Wenn es wirklich schlecht lief, schoss er mich auch einfach über den Haufen, um die Sache abzukürzen. Obwohl das wiederum unpraktisch wäre, da er mich in diesem Fall noch aus dem Velo ziehen musste, ehe er an die begehrten Teile gelangen konnte.

Meine Gedanken vollführten solche tollkühnen Bocksprünge, sodass ich kaum mitbekam, was der Bizepsfetischist als Nächstes sagte. Was natürlich auch wieder an seinem Akzent liegen konnte.

„Hear my gun for dead! Real?“, verstand ich. 

„Hör’ meine Knarre für die Toten!“ Das war offensichtlich eine Drohung, und ich war in seinen Augen praktisch schon Ge­schichte. Mir war nur nicht klar, warum er mich am Ende fragte, ob das überhaupt wahr sein konnte: real? Ich bat ihn höflich, seine Frage zu wiederholen. Es machte die Sache nur unwesentlich besser. 

„Here’s my rhum for dad. Feel?“, setzte ich nun aus seinen langgezogenen Vokalen und abgehackten Konsonanten zusammen. „Hier ist mein Rum für Papa. Fühlst du das?“ Was um alles in der Welt mochte das bedeuten?

„Well ...“ Ich gab mich unentschlossen, da ich noch immer keinen Schimmer hatte, welche Re­aktion von mir erwartet wurde. Ich wusste nicht einmal, ob ich Angst haben sollte oder nicht. 

„C’mon“, beharrte der Fitnessfreak, „komm schon!“ Und erst als er seinen Wunsch ein drittes Mal wiederholte, wurde mir klar, was er mir da anbot.

„Here’s my gun for that. Deal?“ Er wollte seine Knarre („gun“) also nicht gegen mich richten, sondern sie eintauschen gegen das Fahrrad, in dem ich saß. Vermutlich wäre das nicht einmal ein schlechtes Geschäft für mich. Trotzdem lehnte ich dankend ab. Ich betonte es so, als ob ich diesen Umstand wirklich bedauerte. 

Von dieser Begegnung abgesehen waren sie letzten Endes gar nicht so schlimm gewesen: die Be­wohner des Landesinneren zwischen Bemidji und New Orleans. 

Rednecks – Rotnacken, wie die  armen Landarbeiter früher ge­nannt wurden, radeln nicht. Aber wenn damit die neugierigen und bodenständigen, zu­weilen etwas unbedarft erscheinenden Typen ge­meint sind, die wirklich etwas auf die Beine stellen wollen und die sich lieber dann und wann eine blutige Nase holen, statt auf irgendein Erlebnis zu verzichten – ja, dann bin ich einer von ihnen.