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21.06.19 / Das größte Projekt in Europa / Die Untere Havel wird renaturiert: Ein gewaltiges Vorhaben, das Maßstäbe setzt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-19 vom 21. Juni 2019

Das größte Projekt in Europa
Die Untere Havel wird renaturiert: Ein gewaltiges Vorhaben, das Maßstäbe setzt
Dagmar Jestrzemski

Entlang der Unteren Havel führt der Naturschutzbund Deutschland (NABU) seit 2005 die größte Flussrenaturierung Mitteleuropas durch. Damit entsteht hier zugleich eines der größten Naturschutzprojekte Deutschlands. 

Ab diesem Jahr werden die Maßnahmen planmäßig entlang der Flussabschnitte nördlich von Rathenow umgesetzt. Damit sich der Fluss bei Hochwasser über die Flutrinnen wieder in die Aue ausbreiten kann, wird an mehreren Stellen der Deich abgetragen. So gelangen mit der regelmäßigen Durchflutung wieder vermehrt Sauerstoff und Nährstoffe in die Fläche. Der Eingriff dient zudem der Verbesserung des natürlichen Hochwasserschutzes. Des Weiteren soll auf 15 Hektar Fläche ein Auwald angelegt werden. 

Zusammen mit den angrenzenden Niederungen bildet die Untere Havelniederung ein bedeutendes Auen- und Feuchtgebiet im Binnenland des westlichen Mitteleuropas. Zwischen den Städten Havelsee – einschließlich des Pritzerber Sees im Süden – und Rathenow im Norden gehört der Flusslauf mit seinen vielen geschwungenen Armen zum Naturschutzgebiet Untere Havel, weiter nördlich bis Havelberg in Sachsen-Anhalt zum Naturpark Westhavelland. Insgesamt 20000 Hektar der Unteren Havelniederung sind rund sechs Monate im Jahr überflutet. 90 Prozent des Areals werden noch landwirtschaftlich genutzt. Jedoch darf Grünland nicht mehr in Ackerland umgewandelt werden. Etwa 1000 bedrohte und geschützte Tier- und Pflanzenarten, beispielsweise Eisvogel, Fischotter und Fischadler, sind in dem Naturparadies heimisch, dessen Lebensader nun aufwendig in seinen natürlichen Zustand zurückverwandelt wird. 

Die Kosten in Höhe von 40 Millionen Euro trägt zu 75 Prozent der Bund. Elf beziehungsweise jeweils sieben Prozent übernehmen die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg sowie der NABU selbst. 

Durch den Rückbau der Eingriffe, die Menschen seit rund 200 Jahren planmäßig am Fluss vorgenommen haben, erhält die Havel auf ihren letzten 90 von insgesamt 345 Kilometern wieder ihren ursprünglichen Fließweg, bevor sie bei Havelberg in die Elbe mündet. Knapp 230 Kilometer Havellauf sind schiffbar. Schon jetzt ist die Havel in den renaturierten Abschnitten wieder ein lebendiger Fluss. 

Am Flussufer wachsen überwiegend Wiesen und Weidenbäume, die Vegetation ist naturnah. Noch beeinträchtigt aber der Ausbauzustand im nördlichen Fluss­abschnitt durch Stauhaltung und Überdüngung des Wassers den Artenreichtum. Es gibt Altwasser, große Schilfröhrichte und Weidenwälder, die nicht miteinander verbunden sind. Dies will das Renaturierungs-Projekt des NABU großflächig ändern. 

Erst seit Anfang der 1990er Jahre gilt die Erhaltung der Natur- und Kulturlandschaft an der Havel wieder als wichtig und erstrebenswert. Man hatte erkannt, dass der intensive Ausbau des Flusses und die Überdüngung des Wassers infolge der landwirtschaftlichen Nutzung den Lebensraum zahlreicher seltener Tier- und Pflanzenarten zerstört hatte. Gehölze, Hecken und Wäldchen, die wichtigste Voraussetzung für Artenvielfalt, waren verschwunden. Die vom Hochwasser überspülte Fläche war durch Grabensysteme und Deichbauten sowie die Abtrennung der Altarme stark verringert. 

Schon seit dem 18. Jahrhundert legten die Bewohner der Region Sümpfe und Moore mit Entwässerungsgräben trocken. So wurden rund 7500 Hektar landwirtschaftliche Anbaufläche gewonnen. Die planmäßige Begradigung der Havel begann 1875. Später wurde das Hauptbett verbreitert und vertieft, der Fluss im Sommer mit Staustufen reguliert. Der Ausbau der Havel als Schifffahrtsweg und drastische Eingriffe zur weiteren Urbarmachung bestimmten das Landschaftsbild. Ein über Jahrhunderte entstandener Naturraum drohte auszutrocknen.

1996 beschlossen die Landesregierungen von Brandenburg und Sachsen-Anhalt die Renaturierung der Unteren Havel. In Abstimmung mit dem Bundesumweltministerium, den Kommunen, Kreistagen und Fachverbänden plante der NABU ab 2005 das Naturschutz-Großprojekt „Untere Havelniederung zwischen Pritzerbe und Gnevsdorf“. Vor zehn Jahren begann die Realisierungsphase. 

Erstmals in Deutschland werden die Ansprüche von Naturschutz, Verkehr und Wasserwirtschaft bei der Renaturierung einer Bundeswasserstraße abgestimmt. Die Umsetzungsphase für die Einzelprojekte wurde kürzlich um vier Jahre bis 2025 verlängert. Wie der Leiter des NABU-Projektbüros Rocco Buchta erklärte, geht es um die Wiederherstellung wichtiger Funktionen des Ökosystems und nicht um die Wiederherstellung eines historischen Zustandes. Die Havel wird weiterhin ein Kulturfluss bleiben, der genutzt und erlebt werden kann.