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21.06.19 / Fluch und Segen / Vom Sinn und Unsinn des Titels »Kulturhauptstadt Europas« – Häufig geht die Planung an den Bewohnern vorbei

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-19 vom 21. Juni 2019

Fluch und Segen
Vom Sinn und Unsinn des Titels »Kulturhauptstadt Europas« – Häufig geht die Planung an den Bewohnern vorbei
Stephanie Sieckmann

In diesem Jahr tragen die Städte Plowdiw in Bulgarien und Matera in Italien den Titel Kulturhauptstadt Europas. Und sie tragen schwer. Der große Titel, an den Länder und Gemeinden so große Erwartungen knüpfen, bringt für viele Städte eine Bürde mit sich.

Im Jahr 1985 auf Initiative der damaligen griechischen Ministerpräsidentin Melina Mercouri ins Leben gerufen, wird mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas eine Förderung in Höhe von 1,5 Millionen Euro vergeben, die das europäische Kulturförderprogramm Kreatives Europa bereitstellt. Die Kosten sind jedoch weitaus höher. Der Abschlussbericht der EU-Kommission für das Jahr 2016 weist beispielsweise für das zum spanischen Baskenland gehörende Donostia/San Sebastian Betriebskosten in Höhe von 49,6 Millionen Euro und für die schlesische Stadt Breslau sogar Kosten in Höhe von 86,4 Millionen Euro aus. Wie eine Stadt von dieser Ernennung profitiert, vor allem langfristig, ist dabei sehr unterschiedlich. 

Der Titel Kulturhauptstadt Europas lautete 1985 bis 1999 Kulturstadt Europas und wird von der Europäischen Union vergeben. Das ursprüngliche Ziel war es, die kulturelle Vielfalt, den kulturellen Reichtum und das kulturelle Erbe Europas bekannter zu machen. War es am Anfang eine Stadt pro Jahr, die sich mit dem Titel Kulturhauptstadt schmücken durfte, werden seit 2004 jährlich zwei Städte benannt. 

Deutschland war bislang mit West-Berlin 1988, Weimar 1999 und mit der Region Essen/Ruhrgebiet 2010 vertreten. Auch 2025 wird wieder eine deutsche Stadt Kulturhauptstadt sein. Welche Stadt dann Titelträger wird, steht noch nicht fest. Die zuständige Kommission prüft zunächst einmal die Grundlagen und die Perspektiven – dazu gehört vor allem die Nachhaltigkeit –, bevor sie über die Vergabe des Titels an den am besten geeigneten Bewerber entscheidet. 

„Unverzichtbar für das Gelingen des Projektes Kulturhauptstadt Europas ist die Unterstützung in der Region durch Bürger, Institutionen und Medien. Ist im Vorfeld schon festzustellen, dass diese Rückendeckung fehlt, macht die Bewerbung keinen Sinn“, weiß Carina Kurta von CaP.Cult, einer Agentur, die schon einige Städte bei ihrer Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas unterstützt hat. Kassel hat seine Bewerbung für 2025 inzwischen zu­rück­gezogen. 

Ebenfalls wichtig ist die Unterstützung durch politische Parteien, die im Fall der Kulturhauptstadt-Aktion gemeinsam an einem Strang ziehen müssen. Im Bericht der EU-Kommission 2016 ist im Hinblick auf San Sebastian – die Basken nennen die Stadt Donostia – zu lesen: „Es … mangelte an einem gemeinsamen Verständnis der politischen Parteien darüber, wie das Vermächtnis der Aktion ,Kulturhauptstadt Europas‘ aussehen könnte ... In Breslau dagegen war die Vermächtnisplanung sehr stark entwickelt, gut koordiniert und besser geeignet, die langfristige Nachhaltigkeit der Auswirkungen der Aktion ,Kulturhauptstadt Europas‘ – nicht zuletzt auch aufgrund einer starken und linearen politischen Führung – sicherzustellen.“ Gerade für San Sebastian, die Stadt, die jahrzehntelang durch Terroranschläge der  baskischen Untergrundorganisation Schlagzeilen machte und sich mit ihrem Programm „Cultura para la convivencia“ (Kultur für Koexistenz) ein neues Image aufbauen wollte, konnte die Kommission kein positives Fazit ziehen. 

Der Faktor Imagewandel erhielt erstmals 1990 bei der Ernennung Glasgows zur Kulturhauptstadt Bedeutung. Die schottische Industriestadt setzte sich gegen ihre Mitbewerber London und Edinburgh durch, und zwar mit einer Strategie, die auf Kunst und Kultur als Motor für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel setzte. Der Ansatz war radikal – Kultur als Mittel zur Veränderung mit dem Ziel, das kulturelle Potenzial zu entwickeln, um Herausforderungen zu meistern. 

Ebenfalls mit diesem Ansatz gestartet ist die französische Ha­fenstadt Marseille, die lange den Ruf hatte, hässlich und schmutzig zu sein, die mehr für eine hohe Kriminalität bekannt war als für Museen, Architektur und Veranstaltungen. Der größte und bedeutendste Hafen im Mittelmeerraum, Zufluchtsort für Flüchtlinge und Migranten, die drittgrößte Stadt Frankreichs, war 2013 als Marseille-Provence unter Einbeziehung der Region Kulturhauptstadt Europas. Geschätzte elf Millionen Besucher reisten zu den Aktivitäten im Jahr 2013 an. Seitdem halten sich die touristischen Besucherzahlen weit oben.

„Das ist vor allem dem nachhaltigen Kulturprogramm mit einer großen Vielfalt an Events zu verdanken“, so Kurta. 2014 war Marseille Sporthauptstadt, 2015 wurde der Fußball in den Mittelpunkt gerückt, für 2020 ist eine Kunstbiennale geplant, 2024 finden die Olympischen Sommerspiele zum Teil in Marseille statt. 

„Das große Medieninteresse, das aufgrund des Titels Kulturhauptstadt Europas entsteht, bringt die Städte stark voran“, erläutert Stadtentwicklerin Kurta weiter, „die Stadt muss sich das Image aufbauen. Marseille hat das sehr gut umgesetzt.“ Dabei ist es sehr viel schneller möglich, das Image einer Stadt in der Außenwahrnehmung aufzupolieren, weiß Kurta. Bis die Bewohner von Glasgow, Lille, Marseille und Linz ein anderes Bild von ihrer Stadt verinnerlicht hatten, dauert(e) es dagegen weitaus länger.

Gemessen wird der Erfolg der „Kulturhauptstadt“-Aktion gerne in Tourismuszahlen. Touristen bringen Geld und sichern Arbeitsplätze. Das richtige Maß ist aber wie immer ein schmaler Grat. Das Problem ist bekannt. Deshalb hat sich der zuständige Bürgermeister in Materna, des italienischen 60000-Seelen-Ortes, der in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas ist, zuvor bei Städten wie Barcelona erkundigt, wie man eine Überflutung durch Touristen vermeiden kann. Die Steinhöhlen Maternas, die dem Ort in den 1950er Jahren den Namen „Schande Italiens“ einbrachten, und sogar zwangsgeräumt wurden, werden heute zum Teil als AirBnB-Unterkünfte und Luxushotels genutzt. Solange diese Entwicklung für die Bewohner der Stadt im verträglichen Rahmen bleibt, ist das in Ordnung. 

In Marseille bringt eine stark gestiegene Zahl an Direktflügen Menschen aus London, Paris, Mailand, Barcelona und Zürich in die Stadt, die mit ihren 300 Sonnentagen im Jahr ein perfektes Wochenend-Domizil ist. Kein Wunder, dass etliche Schweizer nun Wohnungen in Marseille er­werben. Die jedoch fehlen zunehmend der armen Bevölkerung. 

„Es ist ein sehr fragiles System, das hier in Frage gestellt wird“, gibt Kurta zu bedenken. Hier sind die Verantwortlichen von Stadt und Politik aufgefordert, wachsam zu sein und die Ent­wick­lung im Blick zu behalten, gegebenenfalls auch lenkend einzugreifen. Das Kulturprogramm hat komplexe Folgen, und sie alle müssen in der weiteren Entwicklung der jeweiligen Stadt Berücksichtigung finden.