26.04.2024

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Suchen und finden
28.06.19 / Schicksalen verschwundener Menschen auf der Spur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-19 vom 28. Juni 2019

Schicksalen verschwundener Menschen auf der Spur
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Jedes Jahr werden in Deutschland rund 100000 Menschen bei der Polizei als vermisst registriert. Gewiss werden im Rahmen ihrer Einsatzkräfte sehr oft alle Möglichkeiten zur Auffindung genutzt, aufgrund fehlender sozialpsychologischer Ausbildung ist die Polizei indes nicht selten überfordert, und außerhalb der Polizei gibt es keine Behörde für Vermisstenfälle. Überaus kompliziert wird es, wenn die Suche ins Ausland führt. In einem Fall verweigern spanische Behörden seit 30 Jahren einen vollen Einblick in ihre Unterlagen. Sehr schwierig aufzuklären sind trotz mancher Hilfen deutscher Botschaften derartige Schicksale im Nahen Osten. Der Autor Peter Jamin ist seit 25 Jahren sehr eng mit dieser Thematik befasst und legt in seinem Buch „Ohne jede Spur“ überaus spannend etliche – teilweise erschreckende – Einzel-schicksale dar. 

Die Ursachen zu einem plötzlichen Verschwinden von Menschen können seinen Recherchen zufolge äußerst verschieden sein. Zumeist seien es Schwierigkeiten im Beruf oder Eheprobleme, die oft zu Versagensängsten und Depressionen führen. Häufig fänden Kinder nicht mehr notwendiges Ver­ständnis bei ihren Eltern. Menschen verschwänden, weil sie in größter Not seien und in ihrer Panik keinerlei Lösungsmöglichkeiten sähen. Flucht in eine fremde Welt, eine neue Zukunft erscheine ihnen als einziger Weg. Man möchte vergessen. Typisch dazu die Äußerung eines jungen Mädchens, das jahrelang sexuell missbraucht wurde: „Irgendwas Einfaches möchte ich mir aufbauen. Wenn es nur eine kleine Hütte ist. Da würde ich leben, meinen Frieden haben. Meine Ruhe haben, wie jeder andere Mensch auch.“ Schlage dieser Wunschtraum fehl, könne es leicht zum Selbstmord kommen. 

Für die zurückgebliebenen Mitmenschen breche bei einem solchen Verschwinden meist eine Welt zusammen: Es sind die Qualen der schrecklichen Ungewissheit, der Verzweiflung und Hilflosigkeit, andererseits die Hoffnung. Oft kommt der Vorwurf hinzu, sich um den Vermissten nicht genügend gekümmert zu haben 

– wie soll man den Kindern die Situation erklären? 

Flugblätter, Suchplakate, Zeitungen, das Regionalfernsehen werden zur Suche eingesetzt – zuweilen mit Erfolg. Viele der Zurückgelassenen stehen vor einem organisatorischen und finanziellen Chaos, besonders dann, wenn der Vermisste hohe Schulden hinterließ. In einem solchen Fall, den der Verfasser ausführlich beschreibt, musste deswegen die Ehefrau ihre Villa versteigern lassen, um fortan in einer Sozialwohnung leben zu müssen. 

Nicht wenige Zurückgebliebene gehen bei all den Belastungen seelisch kaputt – „man stirbt innerlich selbst“, wie eines dieser Opfer von sich sagt. Manchmal, vielleicht erst nach vielen Jahren, finden Vermisste den Weg zur Familie, zum Freundeskreis in der Heimat zurück. Dort mischt sich neben der Freude des Wiedersehens nicht selten auch Wut über das damalige Verschwinden und die entstandenen Sorgen. 

Die überaus häufige Ansicht, die Welt sei nach der Rückkehr des Verschollenen wieder in Ordnung, erweise sich allerdings als großer Irrtum. Denn alle Umstände, die zum heimlichen Weggang führten, müssen aufgearbeitet werden. Ebenfalls sollte alles, was in der Zeitspanne der Abwesenheit geschah, bewältigt werden. 

Von großer Wichtigkeit sei es, sich Gedanken über die Zukunft zu machen, sofern sie gemeinsam noch möglich erscheine und von beiden Seiten wirklich angestrebt wird. Auch der Heimkehrer müsse mit seinen seelischen Verwundungen fertig werden, zumeist finde er dabei nirgendwo Hilfe. 

In einem Fall war eine Frau über­fallen und schwer verletzt zurückgelassen worden, sie konnte sich nicht mehr bewegen. Erst nach einer Woche fand man sie zufällig. Erschütternd liest sich das Schicksal eines 80-jährigen Ehepaares, das 20 Jahre lang auf die Heimkehr ihres Sohnes wartete – er lag schon etliche Jahre nach einem Unfall als namenlose Leiche in einem Kühlhaus in Portugal. Manche Menschen indes tauchen nie wieder auf, sie bleiben bis zum heutigen Tage verschwunden. 

Der Leser wird im Buch eine ihm fremde Welt sehen. Bleibt zu hoffen, dass er selber eines Tages nicht in eine solche abstürzt. 

Peter Jamin: „Ohne jede Spur“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, broschiert, 205 Seiten, 10 Euro