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12.07.19 / Zur Schau gestellt / Madame Tussauds geistige Erben – In der Kaiserzeit verzückte ein Wachsfigurenkabinett die Berliner

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-19 vom 12. Juli 2019

Zur Schau gestellt
Madame Tussauds geistige Erben – In der Kaiserzeit verzückte ein Wachsfigurenkabinett die Berliner
Bettina Müller

Selbst der Kaiser kam zu Menschen, Tieren, Sensationen. Vor 120 Jahren starb Gustave Castan, der Schöpfer des legendären „Castans Panoptikum“ von Berlin.

Eine skurrile „Alles-Schau“ im Berlin der Kaiserzeit: Preußische Herrscher in Lebensgröße, plastische Nachbildungen berühmter Gemälde, Totenmasken von Prominenten, spektakuläre Fossilien, aber auch merkwürdige „Bärenweiber“, hindustanische Gaukler, und zwei fast 130 Kilogramm schwere „Herkulesknaben“ aus Danzig und noch vieles mehr: Das alles gehörte im Laufe der Zeit zu den zahlreichen „Attraktionen“ des legendären Panoptikums der Gebrüder Castan. 

1869 hatte es Gustave Castan in bescheidenen Räumlichkeiten in der ehemaligen Straße „An der Stechbahn“ im „Roten Schloss“ eröffnet, so genannt, weil es ein wenig wie das Berliner Rathaus aussah. Gustave Castan, geboren 1837 in Berlin als Nachfahre hugenottischer Glaubensflüchtlinge, war von Beruf eigentlich Bildhauer, ebenso wie sein neun Jahre jüngerer Bruder und späterer Panoptikums-Mitinhaber Louis, der schließlich für eine Weile nach England ging, um das Herstellen von anatomischen Modellen zu erlernen. Schon der Vater, Jean Charles Louis Castan hatte einen künstlerischen Beruf, er war Schauspieler. 

Das Anliegen der geschäfts­tüchtigen Brüder war zunächst, dem geneigten Publikum Zeitgeschichte anhand plastischer Darstellungen von Persönlichkeiten zu vermitteln. Marmor als Ar­beitsmaterial schien ihnen dann aber nicht mehr zu genügen, und so stiegen sie auf Wachs um und entdeckten das Material als Grundlage für einen spektakulären Unterhaltungsfaktor. 

1872 wurde das Kabinett durch einen Brand zerstört, es zog in eine standesgemäße Behausung in der Kaiser-Galerie (Unter den Linden) um und wurde dort vom Kaiserpaar anlässlich der Eröffnungsfeier begutachtet. 1888 er­folgte ein weiterer Umzug in den Pschorr-Palast, benannt nach der Münchner Brauerei. 

War das Panoptikum anfangs noch eine recht gesittete Angelegenheit, in der man zum Beispiel das komplette preußische Königshaus im Ornat, aber in Wachs geboten bekam, wurde es im Laufe der Zeit zunehmend skurriler, und schließlich schufen die Castans sogar eine „Schreckenskammer“, in der man sich angesichts der geballten Ladung von Mördern und Henkern gepflegt gruseln konnte, dafür aber noch ein zusätzliches Eintrittsgeld zahlen musste. Der Reiz des Verbotenen, der Laster und des Schreckens ließen zunehmend auch die Kassen klingeln. „Fehlt’s ihr nicht an Geld, alsdann / Strengt der Castan sich auch an, / Manches Bild von größern Mördern / Fleißig an das Licht zu fördern“ und „Ströme hin in Masse, lasse / Leer nicht Castan’s Tageskasse“, wurde bereits im Juli 1874 in dem Ge­dicht „Reklame“ in der Zeitschrift „Berliner Wespen“ die Geschäfts­tüchtigkeit der Brüder auf die Schippe genommen. 

Ausführlich wurden in der „Schreckenskammer“ stets auch die Gräuel spektakulärer Mordtaten beschrieben, doch als in einem Fall der Ausstellungskatalog darüber keinerlei Abscheu be­kundete, verbot die Berliner Polizei im April 1879 kurzerhand die Ausstellung über zwei besonders grausame „Mordbuben“. 

Nach und nach wurde auch in anderen Städten ein Castans Pa­noptikum errichtet, so auf der Kölner Hohe Straße, aber auch in Belgien, wo es in Brüssel von Moritz Castan geleitet wurde, einem unehelichen Sohn von Pauline Castan, der Schwester Gustaves und Louis’. 

Doch dann überschritten die Castans eine moralische Grenze, und das unter dem wohlwollenden Nicken einiger Berliner Wissenschaftler, angeführt von Professor Rudolf Virchow, der die Berliner Anthropologische Ge­sellschaft mitbegründet hatte. Immer häufiger wurden Menschen aus fernen Ländern zur Schau gestellt, die auf verschiedene Art und Weise nicht den ge­sellschaftlichen Normen entsprachen, darunter zum Beispiel ein junger Mann namens Hassan Ali aus der libyschen Wüste, der mit 16 Jahren bereits 2,40 Meter groß war. Oder man karrte „20 Sioux-Indianer, lebend“ heran, die vom Publikum begafft wurden, und setzte dafür die Menschen den völlig fremden und ungewohnten Situationen aus, bei denen zudem die medizinische Versorgung nicht ausreichend gewährleistet war. Durch Beziehungen zu dem Hamburger Zoodirektor Carl Ha­genbeck, der ebenfalls für „Völkerschau“-Ausstellungen verantwortlich war, zogen dann auch noch lebende Tiere temporär in das Panoptikum ein. 

Welche Lehre die Zuschauer aus solchen Darbietungen ziehen sollten, blieb das Geheimnis der Castans, die das Publikum trotz aller Bemühungen unter dem Motto „Menschen, Tiere, Sensationen“ nicht bei der Stange halten konnten. Gegen Ende der 1880er Jahre hatte es schon angefangen, leicht zu kriseln, dann kam vermutlich eine Intrige er­schwerend hinzu: Louis Castan wurde 1895 wegen „Verbrechens gegen die Sittlichkeit“ – involviert war ein junges Mädchen, das ihm Modell gestanden und ihn schließlich beschuldigt hatte – unter Anklage gestellt, aber freigesprochen. Gustave Castan starb am 21. Juli 1899 in Charlottenburg, da gab es das Unternehmen in seiner alten Form schon nicht mehr, es war drei Monate zuvor in eine GmbH übergegangen. 

Louis war zunächst einer der drei Gesellschafter, schied jedoch bald wieder aus, nachdem er sein gesamtes Vermögen inklusive seiner Potsdamer Villa in der Neuen Königstraße 78 verloren hatte. Er starb am 14. Juli 1908 völlig verarmt und auf milde Gaben seiner Freunde angewiesen in einem Schöneberger Krankenhaus. Das Publikum verlor nun immer mehr das Interesse an den Wachsfiguren, der aufkommende Stummfilm war wesentlich interessanter, weil dort vor allem echte Menschen am Werk waren. Die wirtschaftliche Lage nach dem Ersten Weltkrieg kam erschwerend hinzu, und so wurde 1922 die Berliner Institution „Castans Panoptikum“, das Lebenswerk der Brüder Castan, für immer ge­schlossen.