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19.07.19 / Schweizer Grünschnabel / Vor 200 Jahren wurde der Autor des »Grünen Heinrich« geboren – Berlin machte den Maler Gottfried Keller zum Schriftsteller

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-19 vom 19. Juli 2019

Schweizer Grünschnabel
Vor 200 Jahren wurde der Autor des »Grünen Heinrich« geboren – Berlin machte den Maler Gottfried Keller zum Schriftsteller
Harald Tews

Die Novelle „Kleider machen Leute“ kennt nahezu jedes Schulkind. Sie gehört schon wegen ihres sprichwörtlichen Titels zu den bekanntesten Werken des bedeutendsten Schweizer Autors des 19. Jahrhunderts. Vor 200 Jahren wurde Gottfried Keller in Zü­rich geboren. Ein Großteil seines Werkes entstand aber in Berlin.

Den Berlinern muss der Mann mit den viel zu kurzen Beinen und dem großen Kopf wie ein Waldschrat vorgekommen sein. Im Jahr 1850 tauchte Gottfried Keller in Preußens Hauptstadt auf, wo er dank eines Züricher Staatsstipendiums bis 1855 als freier Schriftsteller leben konnte. 

Mit seinem starken Schweizer Akzent amüsierte er die Berliner. Machte sich einer über den bärtigen Kauz lustig, dann fuchtelte der rauf- und trinkfreudige Autor, der nur 1,40 Meter gemessen ha­ben soll, mit seinen kleinen Fäusten wild um sich. Der Salonkönig Karl Au­gust Varnhagen von Ense schrieb über den Eindruck, den Keller in der gehobenen Gesellschaft hin­terließ: „Ein eigentümlicher, ge­haltvoller Mensch, aber für die Welt etwas verschoben, nicht ganz brauchbar zugerichtet.“

Die feine Gesellschaft mied er, Einladungen zu literarischen Zirkeln wie dem von Fanny Lewald schlug der wortkarge Mann aus. Dafür legte er seine ganze Energie in einen Roman, der zu den am wenigsten gelesenen Meisterwerken der deutschsprachigen Literatur zählt. Sein gemeinhin als Bildungs-, Entwicklungs- oder Erziehungsroman bezeichneter „Grüner Heinrich“ wird häufig in einem Atemzug mit Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ oder Stifters „Nachsommer“ genannt.

Tatsächlich ist das Buch auch eine verkappte Autobiografie. Die Parallelen zwischen dem mit den Resten der väterlichen Jägeruniform gekleideten und daher als „grüner Heinrich“ verspotteten Titelhelden sowie dem künstlerischen Grünschnabel Keller sind offenkundig. Der Autor schildert darin die Herkunft des Titelhelden aus einer Züricher Handwerksfamilie, den frühen Tod des Vaters, die erneute Heirat der Mutter, den Rauswurf aus der Schule wegen eines Jugendstreiches, die Ausbildung in einem Kunstmalerbetrieb, erste amouröse Erfahrungen in den Bergen, den Umzug nach München, das dortige Boheme-Leben als Maler so­wie die Rückkehr zur Mutter.

Das alles hat der am 19. Juli 1819 in Zürich geborene Keller selbst erlebt. Sein Vater, ein Drechsler, verstarb, als er fünf war. Diese Vaterlosigkeit sollte sein Leben und Werk prägen. Sie führte dazu, dass Keller orientierungslos und unerfahren ins Er­wachsenenalter hineinglitt. Landschaftsmaler wollte er werden, nachdem ihm durch den Rauswurf aus der Schule eine höhere Ausbildung versagt blieb. Auch für ein geregeltes Familienleben war der Schuldenmacher, der vom wenigen Geld der verwitweten Mutter lebte, nicht geeignet. Sämtliche Liebes­abenteuer verliefen im Sande. Mal traute er sich nicht wie im Falle einer hübschen Berlinerin, die er als Grafenmündel namens Dortchen im „Grünen Heinrich“ verewigt hat, seine Lie­be zu gestehen, mal wurden seine Heiratsanträge abgelehnt, mal beging eine Verlobte Selbstmord.

Diese Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit thematisiert der „Grüne Heinrich“. Weder Gottes- noch Gesellschaftsvertrauen helfen, um ans Ziel zu ge­langen, also zur sozialen, beruflichen und familiären Anerkennung. Man muss die Erziehung selbst in die Hand nehmen. Und genau das lässt Keller seinen Titelhelden tun. Dabei half eine philosophische Erkenntnis. 

Vor seiner Reise nach Berlin hörte Keller in Heidelberg Vorlesungen des Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach und war angetan von der Idee, dass sich das menschliche Glück im Diesseits und nicht im romantischen Sinne erst im Jenseits erfülle. Der Blick auf die Realität ist das Ziel, nicht das Streben nach einem klassisch-humanistischen Bildungsideal, das sich in einem von Zerfallsprozessen bedrohten Bürgertum im industriellen Zeitalter kaum mehr verwirklichen ließ.

So schuf Keller einen dicken realistischen Wälzer mit bezaubernden Naturschilderungen und erotischen Szenen, aber auch vielen Abschweifungen wie der Darstellung des Münchener Künstlerfestes von 1840, wo auf der Bühne ein allegorischer Mummenschanz geboten wurde. Da muss man als Leser durch. Nach den Jugendjahren des grünen Heinrich hat Keller zudem ein eiliges Ende hingekleckst, das dessen restlichen Jahre knapp zusammenfasst.

In der Berliner Fassung, in der ein Er-Erzähler die von Heinrich selbst erzählte Jugendgeschichte einrahmt, endet noch alles tragisch. Weil ihm dieser Ausgang wohl selbst zu suspekt war, hat Keller später eine ausschließlich als Ich-Erzählung verfasste zweite Fassung herausgebracht, in der zwar alles versöhnlicher endet, die aber nicht mehr ganz die herzhafte frühere Frische besitzt. 

Überhaupt war Keller in seinen späteren Jahren mit sich und der Welt im Reinen. Schon in seinem in Berlin zeitgleich zum „Grünen Heinrich“ entstandenen Novellenband „Die Leute von Seldwyla“ endet fast alles heiter. Die Ausnahme bildet „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, in der sich die verliebten Kinder zweier verfeindeter Bauern in den Fluss werfen. 

In den ebenfalls in Berlin konzipierten, aber später geschriebenen „Züricher Novellen“ ist alles heiter und entspannt. So auch im „Fähnlein der sieben Aufrechten“, in dem Keller sein Engagement als Freischärler im Sonderbundskrieg für das liberale Zürich auf komische Weise verarbeitet hat.

Der Kanton Zürich dankte dem Autor für seinen politischen Einsatz, indem es ihn nicht nur mit einem Stipendium nach Deutschland schickte, sondern auch als „Staatsschreiber“ von 1861 bis 1876 von allen Geldsorgen enthob. Die literarische Produktion stockte durch dieses repräsentative Amt, für das er ab und an politische Dokumente verfasste.

Später ließ er mit dem „Sinngedicht“ einen dritten Novellenband und mit „Martin Salander“ seinen zweiten Roman folgen. Letzterer besaß aber nicht mehr die Strahlkraft seines „Schicksalsbuchs“, wie er den „Grünen Heinrich“ seinem langjährigen Brieffreund Theodor Storm gegenüber be­zeichnet hatte. Zwei Jahre nach Storm, dem mit Fontane anderen großen realistischen Erzähler, starb Keller am 15. Juli 1890 in Zürich.